Theoretische und diagnostische Gesichtspunkte der Traumaforschung

1. Einleitung

In letzter Zeit werden wir in der Öffentlichkeit immer wieder mit Vorfällen konfrontiert, wo Menschen furchtbaren psychischen Belastungen ausgesetzt sind. Sei es, dass sie durch eine Geiselnahme hilflos irgendwelchen kriminellen Gruppen ausgeliefert sind, sei es, dass sie schlimmsten Qualen in Kriegen und politischer Folter ausgesetzt sind, sei es, dass sie als Frauen ihren Männern durch Vergewaltigung oder als zum Opfer fallen, sei es, dass Menschen in vereinnahmenden Sekten ihrer Persönlichkeit beraubt werden. Es gibt noch sicherlich andere Beispiele, wo Menschen gequält und ihrer Würde aufs Schlimmste beraubt werden. Immer mehr aber kommen Ereignisse ans Tageslicht, wo Kinder durch Familienmitglieder misshandelt, schlimmsten psychischen Qualen ausgeliefert sind. Oft handelt es sich dabei um einen sexuellen Missbrauch oder schwerste körperliche Misshandlungen.

Meistens werden wir als Öffentlichkeit nur mit den schrecklichen Geschichten konfrontiert, aber wir haben keine Ahnung, was diese Menschen erleben, welchen konkreten psychischen Qualen sie gefühlsmäßig ausgesetzt sind und welche Schwierigkeiten sie haben, beim Fall des Überlebens, mit den erlittenen psychischen Verletzungen fertig zu werden. Die aktuelle Traumaforschung hat sich diesen Fragen intensiv gewidmet und man weiss heute schon sehr genau, wie Menschen ein psychisches Trauma, eine psychische Verletzung erleben, wie die Psychodynamik und die damit einhergehenden physiologischen Prozesse verlaufen. Weiter weiss man heute, welche psychischen Folgeschäden ein erlittenes Trauma verursacht. Unter dem Schlagwort des posttraumatischen Stresssyndroms werden die unheimlich belastenden Bemühungen der Opfer, die traumatische Erfahrung zu integrieren, zusammengefasst. Wir wissen eigentlich schon sehr präzise, wie sich Menschen in einer posttraumatischen Belastungsstörung verhalten. Die Symptome und das gesamte psychische Erscheinungsbild ist bekannt. Trotzdem ist es möglich, dass in alltäglichen Therapien erlittene Traumen in der Kindheit oft nicht erkannt und somit nicht dem Geschehen adäquat behandelt werden.

Werden Menschen als Kind in ihrer Familie traumatisiert, ist die Integration eines solchen Traumas sehr schwer. Zum einen liegt es daran, dass diese Traumatisierungen nicht öffentlich geschehen, sie sind nicht bekannt und somit objektiv nicht erkennbar. Nur das Opfer allein kennt seine traumatische Erfahrung. Es gibt meistens keine Zeugen oder sie verweigern die Solidarität und verleugnen das Geschehen. Weiter hat ein Kind keine Vergleichsmöglichkeiten, sein erlittenes Trauma als solches zu erkennen. Erwachsene Opfer haben die Möglichkeit, ihre traumatische Erfahrung als eindeutige Zäsur, als psychischen Ausnahmezustand zumindest zu erkennen. Meistens haben Erwachsene, die als Kind traumatisiert worden sind, ihre Erfahrung abgespalten. Die traumatische Erfahrung wurde verfremdet und hat sich zu einer eigenen Verhaltensstruktur entwickelt. So stehen wir oft vor der absurden Situation, dass Menschen psychisch auffällig sind, ein typisches neurotisches Verhalten an den Tag legen oder somatisieren. Die eigentlichen Ursachen der psychischen Störungen sind nicht mehr klar erkennbar. Erst die Trauma Forschung hat es möglich gemacht, gezielter schwerste traumatische Erfahrungen in der Kindheit trotz der oben beschriebenen Schwierigkeiten therapeutisch anzugehen.


2.  Traumatische Störungen

A.  Die vergessene Geschichte: Die Entwicklungsgeschichte der Traumaforschung

Immer wieder werden wir mit der Tatsache konfrontiert, wie die Bemühungen, die Vorgänge der psychischen Traumatisierung zu erforschen, durch gesellschaftliche Widerstände erheblich behindert und oft unterbunden wurden. Als Freud1 das Phänomen der Hysterie näher erforschte, indem er die Frauen ihre Geschichte genauer erzählen liess, indem er durch Hypnose ihre verdrängte Geschichte aufdeckte, stellte er fest, dass die Frauen unter den Folgen eines sexuellen Missbrauches litten. Bis zu dieser Zeit, glaubte man, dass die Hysterien der Frauen ein eingebildetes Theater wären. Freud bekam wegen seiner Entdeckung der psychischen Traumatisierung bei hysterischen Frauen mit dem Establishment seiner Berufskollegen grosse Schwierigkeiten. Denn er musste feststellen, dass aus den sehr gut betuchten Gesellschaftsschichten seiner Zeit Kinder, besonders Frauen, in grosser Zahl sexuell missbraucht und dadurch psychisch geschädigt wurden. Um seine Karriere nicht zu gefährden, nahm er seine Entdeckung zurück und verbannte die Erzählungen der Patientinnen in den Bereich der Phantasie. Seine Entdeckung wurde dann durch die Triebtheorie ersetzt. Damit wurde die Erforschung psychischer Traumatisierungen wieder für Jahre zurückgestellt.

Es macht den Anschein, dass es in unserer Gesellschaft ein unerträglicher Gedanke war, dass psychische Traumatisierungen tatsächlich vorkommen könnten. Es war einfach nicht nachvollziehbar, dass menschliches Verhalten den Menschen so schädigen kann, das offensichtliche Schäden an Leib und Seele zurückbleiben. Es hätte zur Folge gehabt, dass sich das Verhalten des Menschen grundsätzlich hätte verändern müssen. Es hätte sich eine andere grundlegende ethische Haltung ausbilden müssen, die die Menschen vor solchen furchtbaren seelischen, emotionalen Erfahrungen schützen müsste. Traumatische Erfahrungen und posttraumatische Syndrome könnten vermieden werden. Deshalb ist es illusorisch solche Veränderungen von einzelnen Wissenschaftlern alleine zu erwarten. Sie müssen unter gesellschaftlicher Rückendeckung erfolgen. So fällt auf, dass die Forschungen über die psychische Traumatisierung nur unter ganz bestimmten gesellschaftlichen Umständen möglich waren. So interessierten sich Freud und sein Lehrer Charcot2 in Paris nur deshalb für die wissenschaftliche Erforschung der Hysterie Ende des 19. Jh, weil man im Sinne der Aufklärung jedem religiösen Zauberglauben abhold war und die Hysterie nicht als Machtergreifung des Teufels akzeptieren wollte. Als aber die gesellschaftspoltischen Folgen für die rationalen Wissenschafter ersichtlich wurden, da ergriff sie die Angst. Es hat sich wieder einmal das alte psychologische Prinzip bewahrheitet, dass der Kontext das Handeln bestimmt. So wurde die Traumaforschung durch ein neues gesellschaftliches Phänomen unwillkürlich wieder in Gang gesetzt. Mit Entsetzen stellten Generäle im Verlaufe des ersten Weltkrieges fest, dass ihre Soldaten der Reihe nach die grauenhaften Stellungskriege in den Schützengräben nicht mehr aushielten. Die emotionale Belastbarkeit der Soldaten war an eine Grenze gestossen, die die Ideologie des Weltkrieges brutal in Frage stellte. Die programmierten Helden zeigten Schwäche. Für eingefleischte Militaristen war dies Alptraum schlechthin. Zuerst wollten die mit der Militärführung loyalen Psychiater das verstörte Verhalten der Soldaten nicht als Krankheit akzeptieren, sondern brandmarkten es als Feigheit und Verrat. Die Soldaten zeigten Symptome des posttraumatischen Syndroms. Sie waren stumm, jeder Sprache unfähig, gefühllos, gereizt, verschreckt, litten unter vegetativen Störungen. Erst W.H.R.Rivers, ein berühmter Neurophysiologe wagte es, mit den betroffenen Soldaten eine Therapie auf der Basis der damals schon bekannten Psychoanalyse zu machen. Immer noch war sein Interesse aber mit den damaligen gesellschaftlichen Werten deckungsgleich. Er behandelte seine Patienten respektvoll und nicht verachtend, wie seine psychiatrischen Berufskollegen war es auch für ihn wichtig, die Soldaten so schnell wie möglich wieder an die Front zurückzuschicken. Ich meine, dass die rassistische Ideologie der Nazis genau das Gegengiftwurde, um Soldaten so gefühllos zu machen, dass sie das Morden und das Leiden ohne offensichtlichen Störungen überstanden. Besonders im zweiten Weltkrieg bekam die Traumaforschung einen wichtigen Stellenwert, weil es wichtig wurde, Behandlungsmethoden zu entwickeln, um Soldaten wieder kriegstauglich zu machen. Mittlerweile haben auch die Militärs erkannt, dass psychische Zusammenbrüche beim Krieg normal sind und haben diese als militärisches Kalkül in ihre Strategien mit einbezogen. Leider wurde nicht die Ideologie des Krieges durch die Traumaforschung in Frage gestellt, sondern die Traumaforschung diente als Wissenschaft moderner Kriegführung. Es dauerte Jahre, bis die sogenannte Kriegsneurose der Soldaten im Krieg anders bewertet wurde. Heimkehrende Soldaten aus Vietnam zeigten massenhaft die Symptome traumatischer Erfahrungen. Sie litten alle unter vegetativen Störungen, Gereiztheit, Angstzuständen, Alpträumen usw. Engagierte Psychiater und ehemalige Soldaten begannen den Krieg in Vietnam in Frage zu stellen. Politische Kreise nahmen sich dieser Anliegen an. In einzelnen Gruppen wurden die seelischen Leiden der Soldaten untersucht und durch die politische Stosskraft der Antikriegsbewegung der sechziger und siebziger Jahre wurde eine gesellschaftliche Akzeptanz dieser Form psychischen Leidens erreicht. Anfangs der achtzigeranerkannte die Amerikanische Gesellschaft für Psychiatrie das posttraumatische Syndrom als psychische Krankheit an. Endlich war es soweit, dass man in unserer westlichen Gesellschaft bereit war, den Zusammenhang zwischen tatsächlicher menschlicher Gewalt andern Menschen gegenüber und daraus resultierenden psychischen Folgen als erwiesen zu anerkennen.

Nun war das Klima geschaffen, das gesamte gesellschaftliche Spektrum nach seinen gewalttätigen Formen und den damit verbundenen psychischen Auswirkungen zu durchforschen. Dabei spielte die Frauenbewegung anfangs der siebziger Jahre eine entscheidende Rolle. Die Frauen wollten sich nicht mehr mit der durch Männer bewirkten Unterdrückungen klaglos einverstanden erklären. Besonders deckten sie 100 Jahre nach Freud die ungeheuerliche Gewalt im sexuellen Bereich von Männern gegenüber Frauen auf. Sexuelle Gewalt und die damit verbundenen traumatischen Folgen wurden angeprangert. Weiter wurden immer mehr die Gewaltanwendungen von Eltern ihren Kindern gegenüber aufgedeckt. Heute ist es eine beklemmende Erkenntnis, dass viele psychische Schwierigkeiten von Menschen traumatische Folgeerscheinung erlebter Gewalt in ihrer Kindheit sind. Wir sind in unserer Gesellschaft immer noch nicht genug sensibilisiert, Lieblosigkeit und damit verbundene Gewaltanwendung anzuprangern und zu unterbinden.

Philipp Reemtsma beschreibt die Reaktion der Gesellschaft auf traumatische Erfahrungen von Menschen, die für kindliche Traumatisierungen besonders gilt, folgendermassen:

„Wir wissen, dass ein Trauma oft dann erst seine zerstörerische Kraft voll entwickelt, wenn das soziale Umfeld des Traumatisierten unfähig ist, mit dem Trauma umzugehen, dem Traumatisierten nicht das zuteil werden lässt, was er als gerecht empfindet, ihn gar stigmatisiert oder ausstösst."


B.  Angst: Die Psychodynamik der Traumatisierung und die wichtigsten Symptome des posttraumatischen Stress - Syndroms

Der Tatbestand eines Taumas ist erfüllt, wenn das Opfer durch eine übermächtige Macht hilflos gemacht wird. Ist diese Macht eine Naturgewalt, sprechen wir von einer Katastrophe. Üben andere Menschen diese Macht aus, dann sprechen wir von Gewalttaten. Traumatische Ereignisse zerstören die psychische Integrität (Unversehrtheit des Menschen), das Gefühl von Kontrolle, Zugehörigkeit zu einem Bezugssystem. Traumatische Erfahrungen sind für den Menschen deshalb aussergewöhnlich, weil sie die normalen Anpassungsstrategien des Menschen überfordern. Traumatische Erfahrungen bedeuten im allgemeinen eine Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit. Der Mensch ist in traumatisierenden Situationen in extremer Weise Hilflosigkeit und Angst ausgeliefert und reagiert ähnlich wie bei Katastrophen. Besonders wichtig ist es festzustellen, dass die eine traumatische Erfahrung begleitenden Gefühle von intensiver Angst, Hilflosigkeit, Kontrollverlust und drohender Vernichtung eine prägende Rolle spielen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine traumatische Erfahrung psychische Schädigung zur Folge hat, ist sehr wahrscheinlich, lässt sich aber nicht genau quantifizieren. Besonders wichtig ist festzuhalten, dass posttraumatische Folgen durchzwei wesentliche Faktoren bestimmt werden:

Einerseits ist es die Erfahrung von intensiver, nicht integrierbarer Gefühle wie Hilflosigkeit und Angst und andrerseits die psychophysische Reaktion auf das Ereignis. Man spricht hier von traumatischen Reaktionen.

Die emotionalen Erfahrungen und die damit verbunden Reaktionsweisen hinterlassen so einprägsame Spuren im seelischen System des Menschen, dass sein ganzes zukünftiges psychisches Koordinatensystem durch die traumatische Erfahrung geprägt, sein bisheriges Leben radikal verändert wird.

Gerät der Mensch in bedrohliche psychisch belastende Lebenssituationen, wird das vegetative Nervensystem schlagartig erregt. Adrenalin wird ausgeschüttet und der Organismus wird in einen akuten Alarmzustand versetzt. Dadurch wird die Konzentration sofort auf die unmittelbare Situation gerichtet. Unter der Bedrohung verändert, ja verzerrt sich die Wahrnehmung. Hunger, Müdigkeit und Schmerz werden ausgeblendet. Intensive Gefühle von Angst und Wut werden hervorgerufen. Solche Veränderungen im Grad von Erregung, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Empfindung sind normale Anpassungsmechanismen in Stresssituationen.

Der Organismus mobilisiert durch diese psychophysische Reaktion Kräfte, um sich der Belastung durch Kampf oder Flucht zu entziehen. Traumatische Reaktionen treten dann auf, wenn Handeln in Stresssituationen keinen Sinn hat. Ist weder Widerstand noch Flucht möglich, ist das Selbstverteidigungssystem des Menschen überfordert und bricht im Chaos zusammen. Der Stresszustand wird durch die traumatische Situation nicht aufgelöst, sondern bleibt unverändert bestehen. Der übersteigerte Belastungszustand wird durch die andauerndeAufrechterhaltung der Gefahr noch schlimmer, obwohl unter Umständen die akute Gefahr nicht mehr vorhanden ist.

Deshalb bewirken traumatische Ereignisse tiefgreifende und langfristige Veränderungen in der physiologischen Erregung, bei Gefühlen, Wahrnehmung und Gedächtnis.

Der Organismus bleibt auf einem unnatürlichen Stressniveau fixiert und verharrt chronisch in seinen Überlebensmechanismen.

So werden diese normalerweise aufeinander abgestimmten Funktionen durch ein traumatisches Ereignis oft voneinander getrennt. Der Traumatisierte empfindet intensive Gefühle, kann sich aber nicht genau an die Ereignisse erinnern; oder er erinnert sich an jedes Detail, empfindet aber nichts dabei. Er ist ständig gereizt und wachsam, ohne zu wissen warum.

Häufig geht der Zusammenhang zwischen traumatischen Symptomen und ihrem Auslöser verloren, die Symptome verselbständigen sich.

Die Zerstörung des komplexen Selbstschutzsystems durch das traumatische Erlebnis und die damit verbunden psychischen Störungen sind die herausragenden Merkmale eines psychischen Traumas.

Der bekannte französische Neurologe Pierre Janet beschrieb diesen Zerstörungsprozess schon vor hundert Jahren folgendermaßen: "Die auflösende Wirkung intensiver Gefühle verhindert das verschmelzende Funktionieren des Verstandes."1 Das Beziehungsnetz zwischen Gefühl und Verstand wird bei einer traumatischen Erfahrung zerrissen. Abram Kardiner beschrieb den psychischen Zerstörungsprozess folgendermaßen: "Es zerbricht der gesamte Apparat, der harmonisches, koordiniertes und zielgerichtetes Handeln möglich macht. Die Wahrnehmungen werden unpräzise und von Angst überflutet, das koordinierte Funktionieren von Entscheidung und Urteilsvermögen setzt aus... sogar die Sinnesorgane können ausfallen... Aggressive Impulse entladen sich chaotisch und nicht der Situation angemessen."2

Das posttraumatische Syndrom zeichnet sich durch folgende hauptsächliche drei Symptome aus:


a) Übererregung

Nach einer traumatischen Erfahrung scheint sich das Selbstschutzsystem des Menschen in einem ständigen Alarmzustand zu befinden, als könnte die Gefahr jeden Moment wiederkehren. Der Traumatisierte erschrickt leicht, reagiert überschiessend auf geringfügigen Ärger und schläft schlecht. Die psychophysiologischen Veränderungen bei posttraumatischen Belastungsstörungen sind sehr weitreichend und können sehr lange anhalten. Die Patienten leiden an allgemeinen Angstsymptomen, die mit spezifischen Befürchtungen verknüpft sind.

Bei ihnen ist das Grundniveau ein Zustand erhöhter Erregung: Ihr Körper ist immer in Alarmbereitschaft und auf eine Gefahr vorbereitet.

Schlussfolgernd kann man feststellen: Traumatische Ereignisse verändern das menschliche Nervensystem tiefgreifend. (Vegetativ)

Sie reagieren extrem schreckhaft auf unerwartete und vor allem auf spezifische Reize, die mit dem traumatischen Ereignis in Verbindung stehen. Die erhöhte Erregung hält im Schlaf- wie im Wachzustand an, die Folge sind massive Schlafstörungen. 


b) Intrusion

Ungewollt sich aufdrängende Erinnerungen und Gedanken an das traumatische Ereignis.

Lange nachdem die Gefahr vorüber ist, erleben Traumatisierte das Ereignis immer wieder so, als ob es gerade geschähe. Es ist, als wäre die Zeit im Moment des Traumas stehengeblieben. Der traumatische Augenblick wird abnormal im Gedächtnis gespeichert und gelangt dann spontan ins Bewusstsein, im Wachzustand als plötzliche Rückblende und im Schlaf als angsterfüllender Alptraum. Immer wieder können belanglose Lebensumstände Erinnerungen wecken, in denen das Ereignis extrem lebensecht und mit aller emotionalen Gewalt wiederkehrt.

Das Trauma stoppt jeden Entwicklungsverlauf, die Opfer sind an ihre traumatische Erfahrung gefesselt, sie kommen nicht mehr davon los, sie sind gefangen.

Traumatische Erinnerungen weisen eine Reihe von Besonderheiten auf. Anders als gewöhnliche Erinnerungen von erwachsenen Menschen sind sie nicht als verbale, lineare Erzählung gespeichert, die Teil einer fortlaufenden Lebensgeschichte wird.

Verbale, zusammenhängende Erzählungen fehlen bei traumatischen Erinnerungen.

Statt dessen sind sie in Form intensiver Gefühle und deutlicher Bilder gespeichert. Traumatische Erinnerungen sind quälende, unauslöschliche Bilder. Die intensive Dichte der fragmentierten Gefühle, der Bilder ohne Text, verleiht der traumatischen Erinnerung eine gesteigerte Realität. Das Übergewicht von Bildern und körperlichen Empfindungen bei gleichzeitigem Fehlen einer verbalen Erzählung verbindet traumatische Erinnerungen mit den Erinnerungen von Kleinkindern. Diese stark bildhafte und szenische Form der Erinnerung, die für Kleinkinder adäquat ist, wird offenbar in extrem schrecklichen Situationen auch bei Erwachsenen mobilisiert.

Den besonderen Eigenschaften traumatischer Erinnerungen liegen möglicherweise Veränderungen des Zentralnervensystems zugrunde.

Traumatische Erinnerungen sind offensichtlich im Schlaf-wie im Wach zustand Folgen eines veränderten neurophysiologischen Systemzustands.

Man hat herausgefunden, dass bei traumatischer Prägung die linguistische Kodierung (Faktenwissen) im Gedächtnis außer Funktion gesetzt wird und das Zentralnervensystem deshalb auf die sensorischen und bildhaften Formen des Gedächtnisses zurückgreift, die in den ersten Lebensjahren dominieren und ausgebildet werden.

Traumatisierte Menschen erleben den traumatischen Moment nicht nur in Gedanken und Träumen, sondern auch in ihren Handlungen wieder. Traumatisierte müssen oft die Schreckensmomente zwanghaft in offener oder verschleierter Form wiederholen. Diese Menschen sind sich dieser immer wiederkehrenden Inszenierung nicht bewusst. Vielmehr wollen sie mit aller Kraft das Erlebte verarbeiten und aus ihrem Gedächtnis auslöschen. Dabei setzen sie sich Gefahren aus, unter denen sich das Trauma tatsächlich wiederholen könnte. Diese zwanghaften Wiederholungen werden heute darauf zurückgeführt, dass das Gehirn die Tendenz hat, neue Erfahrungen im Sinne des Vervollständigungsprinzips zu integrieren. Es geht bei diesem Integrationsprinzip darum, dass neue Informationen so verarbeitet werden, dass die inneren Muster für Selbst- und Weltbild auf den neusten Stand gebracht werden. Da die traumatische Erfahrung definitionsgemäss eine enorme Überforderung des Anpassungssystems des Organismus darstellt, scheitert das Gehirn an der Integrationsaufgabe und dreht durch.

Das Trauma kann eigentlich erst überwunden werden, wenn das Opfer

ein neues geistiges Muster entwirft, um das Geschehen zu verstehen.

Die zwanghaften Wiederholungshandlungen haben verheerende psychische Begleiterscheinungen zur Folge: Ununterbrochen wird der Traumatisierte durch sein schreckliches Erleben überfallen. Er wird ständig von Angst und Wut geschüttelt. So unternimmt das Opfer alles in der Welt, intrusive Symptome abzublocken, zwar zu seinem eigenen Schutz, aber das posttraumatische Syndrom verschlimmert sich, weil die Vermeidung der Erinnerung eine Einengung des Bewusstseins, einen Rückzug aus zwischenmenschlichen Beziehungen und eine emotionale Verarmung zur Folge haben.


c) Konstriktion

Vermeidung von Situationen, die als bedrohlich empfunden werden, psychische Erstarrung, emotionale Anästhesie.

Da der Traumatisierte aus dem chronischen Ohnmachtsgefühl nicht durch eine reale Handlung fliehen kann, entweicht er diesem Zustand nur durch die Veränderung seines Bewusstseinszustand. Dieser Zustand wird oft auch als Zustand der Erstarrung genannt.

Das gesamte fühlende System des Organismus wird ausgeschalten.

Es stellt sich eine dissoziierende, distanzierende Ruhe zum Geschehen ein. Der Mensch ist vom Erleben und damit vom Geschehen total abgespalten. Er sieht sich und das Grauen, das mit ihm geschieht, als Zuschauer an. Diese traumatische Dissoziation versetzt den Menschen in eine Art Trance. Man weiss heute, dass dabei körpereigene Morphine eine herausragende Rolle spielen. Sie wirken als Schmerzmittel und haben auch die Funktion, emotionale Empfindungen zu unterdrücken. Der konstriktive Prozess hat die Funktion, traumatische Erinnerungen vom normalen Bewusstsein fernzuhalten. Deshalb tauchen nur fragmentarische Erinnerungen als intrusive Symptome (Wie oben beschrieben) auf.

Durch den konstriktiven Prozess werden alle Erinnerungen unterdrückt. Nicht nur in Gedanken, sondern das Handeln des Individuums wird ganz diesem Unterfangen unterordnet. Der Traumatisierte vermeidet sämtliche Möglichkeiten, die ihn an das Trauma erinnern könnten. Gegenwart und Zukunft existieren nicht mehr, Alles ist nur auf Vermeidung ausgerichtet.

Konstriktive Symptome verengen das Spektrum der Lebensmöglichkeiten beeinträchtigen die Lebensqualität und perpetuieren letztendlich die Auswirkungen des traumatischen Ereignisses.

Nach einer als überwältigend erlebten Gefahr entsteht zwischen den beiden Reaktionsmustern der Intrusion und der Konstriktion eine sich gegenseitig bedingende dynamische Wechselwirkung.

Die gleichzeitige Wirkung gegensätzlicher psychischer Zustände ist das vielleicht eindeutigste Merkmal des posttraumatischen Syndroms. Intrusive und konstriktive Prozesse lassen keine Integration des traumatischen Erlebens zu.

Auch wenn sich das Opfer noch so bemüht, durch das alternative Auftreten dieser psychischen Reaktionsweisen ein inneres psychisches Gleichgewicht zu erreichen, muss es immer daran scheitern. Traumatisierte Menschen sind gefangen zwischen zwei Extremen:

Zwischen Gedächtnisverlust oder Wiedererleben des Traumas; zwischen der Sintflut intensiver, überwältigender Gefühle und der Dürre absoluter Gefühllosigkeit; zwischen gereizter, impulsiver Aktion und totaler Blockade jeglichen Handelns.

Der Traumatisierte ist zu einem reduzierten Leben verurteilt, gequält von Erinnerungen und gefesselt von Hilflosigkeit und Angst. So absolvieren viele Opfer ihre alltägliche Routine, beobachten alle Ereignisse aus grosser Distanz, ihr Gefühl von Lähmung und Nichtzugehörigkeit wird nur durch die immer wieder schrecklich auftauchenden Erinnerungen an ihr Trauma gefühlsmäßig durchbrochen.


C.  Soziale Auswirkungen des Traumas: Verlust der Beziehungen und Werteverlust

Traumatische Erfahrungen wirken sich nicht nur direkt auf die psychischen Strukturen aus, sondern sie beeinflussen ganz stark auch die Beziehungssysteme und Wertvorstellungen des Menschen. Traumatisierte fühlen sich extrem verlassen, allein undausgestossen aus dem lebenserhaltenden Rahmen von menschlicher Fürsorge und Schutz. Das Gefühl von Entfremdung und Nichtzugehörigkeit beherrscht jede Beziehung. Das Selbst des Opfers wird zerstört. Die Selbstsicherheit und das Vertrauen in die Umwelt sind verschwunden. Vor allem das Gefühl, ein eigenständiger Mensch zu sein, geht total verloren. Man fühlt sich wieder in der abhängigen Position eines Kleinkindes der Umwelt gegenüber. Man ist schutzbedürftig, aber gleichzeitig hat man panische Angst vor der Nähe und Intimität. Die Opfer eines Traumas fühlen sich schuldig, mies, unsicher, entwertet und wissen gar nicht mehr um ihre Fähigkeiten und Kompetenzen. Sie leiden unter einem extrem negativen Selbstbild.


D.  Die Verletzung der Gefühle: Der Prozess der Traumatisierung

a)  Einleitende Bemerkungen

Dadurch, dass das Augenmerk auch auf Traumatisierungen in anderen Lebens-bereichen gerichtet wurde, zeigten sich immer mehr Varianten seelischer Verletzungen. In Gefangenschaft(Konzentrationslagern, Geiselnahme und politisch motivierte Gefangenschaft) wurden Menschen einer ganz anderen Art von traumatischer Erfahrung ausgesetzt als die Soldaten an der Front. Man hat vor allem in den Nachkriegsjahren sich intensiv um die Opfer der Naziherrschaft aus den Konzentrationslagern gekümmert. Die Erzählungen der Überlebenden schildern Erfahrungen mit den Tätern, vor denen der menschliche Verstand versagen muss. Nur wenige Fachleute haben sich mit diesen Schicksalen beschäftigt, ein grosser Teil der Gesellschaft wollte die taten und die damit verbundenen schrecklichen Folgen dieser Verbrechen gar nicht wahrhaben. Lässt man sich emotional und intellektuell auf diese schreckliche Thematik ein, dann erfährt man, wie die Menschen konkret fürchterlichste emotionaler Verletzung und Erniedrigung ausgesetzt waren. Die psychische Verletzung wird nicht mehr ein theoretischer Begriff, eine psychopathologische Kategorie, sondern sie erhält ein klar sichtbares Erscheinungsbild. Gleichzeitig werden wir mit der abscheulichsten Seite des Menschen, der Fähigkeit zu zerstören, konfrontiert

Man unterscheidet heute zwei Arten des Traumas: Entweder erlebt das Opfer ein sequentielles Trauma, es wird kurz und akut traumatisiert, oder es erleidet ein chronisches Trauma, es ist langandauerndem Leid ausgesetzt und befindet sich in einer Gefangenensituation, wo es sich dem Täter und seinem Gutdünken total ausgeliefert fühlt. Werden Menschen als Kinder schwerst traumatisiert, sind siegenau den gleichen Terrormechanismen ausgeliefert, wie politische Gefangene oder Geiselopfer. Meistens sind sie gewalttätigen Männern ausgeliefert, die um ihre Opfer unsichtbare Gefängnismauern bauen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit fürchterlich quälen. Neben der politischen Gefangenschaft und ihren abscheulichen Begleiterscheinungen möchte ich mich hier an dieser Stelle besonders mit der häuslichen Gefangenschaft beschäftigen.


b)  Die Opfer - Täter - Beziehung: Ein traumatisierendes Terrorsystem

In der Gefangenschaft, wenn das Opfer über längere Zeit Kontakt mit dem Täter hat, entsteht eine besondere, von Zwang und Unterworfensein geprägte Beziehung.

Das betrifft Opfer, die mit purer Gewalt festgehalten werden, wie etwa politische Gefangene oder Geiseln, ebenso wie Opfer, die durch eine Mischung von Gewalt, Einschüchterung und Verführung festgehalten werden, wie etwa Mitglieder religiöser Sekten, misshandelte Frauen und missbrauchte Kinder.

Die psychischen Folgen der Unterwerfung durch Zwang sind sehr ähnlich, unabhängig davon, ob die Opfer in der öffentlichen Sphäre der Politik oder in der Familie misshandelt und unterdrückt werden.

Der Täter wird in der Gefangenschaft der wichtigste Mensch im Leben des Opfers.

Leider ist es uns beinahe nicht möglich, zu verstehen, was sich im Kopf eines Täters abspielt. Sie stellen sich nie freiwillig einer Untersuchung und bei Gericht zeigen sie oft keine Spur von Reue oder Schuldgefühlen. Sie sind kalt und unnahbar, aber, was am meisten erschreckt, sie sind normal, wie Du und Ich, sie fallen nicht als Monster auf. Ihre Gefährlichkeit ist unter der Maske der ganz gewöhnlichen Normalität versteckt. So konnten die SS-Schergen am Morgen ihre Familien verlassen, ihren Dienst beim Gasofen oder auf der Rampe verrichten und am Abend zu ihren Kindern und zur Frau heimkehren, wie wenn nichts geschehen wäre. Dieses unheimliche Abspaltungsvermögen seiner Tat gegenüber ist ein charakteristisches Merkmal der Täterpersönlichkeit. Weiter werden sie, dank der Beobachtung der Opfer, als autoritär, verschlossen, manchmal grössenwahnsinnig und sogar paranoid beschrieben.

Wie geht ein Täter vor, um sein Opfer gefügig zu machen und es sogar seinem Willen zu unterwerfen?

Das vorrangige Ziel des Täters besteht darin, sein Opfer zu versklaven. Dieses Ziel erreicht er, indem er sämtliche Lebensbereiche des Opfers despotisch kontrolliert. Die Unterwerfung alleine genügt aber nicht, vielmehr verlangt er vom Opfer, dass es sein Handeln dadurch rechtfertigt, indem es ihm Achtung, Dankbarkeit oder sogar Liebe entgegenbringt. Die Beziehung zwischen Täter und Opfer wird dadurch pervertiert, indem der Täter das Opfer soweit bringt, dass es sich nicht mehr gezwungen fühlt, sondern freiwillig gerne macht, was von ihm verlangt wird. Um einen Menschen soweit zu bringen, muss man ihm fortwährende Traumen zufügen, bis seine Persönlichkeit gebrochen ist. Dieses Vorgehen basiert auf der Methode, dass man bewusst Techniken anwendet, die das Opfer erniedrigen und isolieren. Dies geschieht dadurch, dass man systematisch Angst und Hilflosigkeit erzeugt und das Selbstbewusstsein in zwischenmenschlichen Beziehungen zu andern vernichtet. Dabei wird oft dem Opfer kein realer Schaden zugefügt, sondern es wird mit Vernichtung gedroht. Drohungen, kombiniert mit dem Zustand absoluter Hilflosigkeit wirken traumatisch. Da sich der Organismus in diesem Zustand schon in höchster Alarmbereitschaft befindet, ist ein realistisches und kontrolliertes Abschätzen der Situation nicht mehr möglich. Diese Folter wirkt viel schlimmer als reale Verletzung. Oft wird die Bindung des Opfers gegenüber Außenstehenden brutal ausgenutzt und man droht mit der Vernichtung seiner nächsten Bezugspersonen. Weiter wird die Angst des Opfers verstärkt, indem unverständliche, unvorhersehbare Gewaltausbrüche auf den Menschen niederprasseln oder man beharrt auf unbedeutende Regeln und verwirrt den andern bis zum chaotischen Zusammenbruch. Lässt der Täter dann das Opfer gnädig "laufen", treten die Drohungen real nicht ein, empfindet das Opfer den Täter paradoxerweise als Retter. Die Bindung des Opfers an den Täter verstärkt sich. Durch diesen perfiden Manipulationsmechanismus erreicht der Täter nicht nur sein Ziel, dem Opfer Angst zu machen, sondern vernichtet sein ureigenes Gefühl der Autonomie. Dabei spielt auch die absolute Kontrolle über das Verhalten des Opfers eine entscheidende Rolle. Bis in die intimsten Bereiche wird das Opfer überwacht. Wichtig ist die Isolation des Opfers gegenüber seiner Aussenwelt. Alle Bindungen zu Menschen, sogar innere Bilder, müssen vernichtet werden. Eine vergewaltigte Frau berichtete, dass ihr Freund aus Eifersucht von ihr verlangte, alle Fotos ihrer früheren Beziehungen vor seinen Augen zu verbrennen. Erst als dieses Werk vollbracht war, konnte er sich sicher sein, dass seine Freundin sein Eigentum wurde. Diese Art von geistiger und physischer Folter kennen wir von vielen Überlebenden. Sie schildern auch, wie sie nur unter grössten Anstrengungen und Gefahren es immer wieder geschafft haben, ihre Integrität zu bewahren. Wir wissen auch, dass viele Menschen an diesen Behandlungen umgekommen oder für den Rest ihres Lebens irreversibel gebrochen und als lebende Leichen weiterexistieren mussten. In seinem Buch über seine Arbeit mit Überlebenden der KZ's beschreibt der Psychiater W.G.Niederland sehr eindrücklich, wie er mit völlig gebrochenen und zerstörten Menschen konfrontiert war. Er meinte, dass es rational gar nicht mehr nachvollziehbar war, wie es überhaupt noch diesen Menschen gelungen war, diese Hölle zu überleben. (W.G. Niederland, Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden - Syndrom. Seelenmord, Frankfurt am Main 1980)

Die meisten Menschen besitzen nicht die Kraft, dem Terror einer solchen zwanghaften Unterdrückung zu widerstehen. Sie werden durch die oben beschriebenen Mechanismen von ihrem Täter abhängig und entwickeln sogar noch oft Zuneigung.

Angst, vereinzelte Belohnungen, Isolation und erzwungene Abhängigkeit können schließlich dazu führen, dass das Opfer unterwürfig und gehorsam wird. Man beschreibt zwei wichtige Phasen, in denen der Wille und die Persönlichkeit von Menschen gebrochen werden können:

1. Die erste Phase ist abgeschlossen, wenn das Opfer innere Autonomie Weltanschauung, moralische Prinzipien oder Bindungen aufgibt, um zu überleben.

2. Die zweite, irreversible Stufe der Unterdrückung ist erreicht, wenn das Opfer den Lebenswillen verliert. Es ist dem Menschen nur noch egal, was mit ihm passiert.

Bei chronisch Traumatisierten unterscheiden sich die Symptome in einigen Punkten gegenüber den oben beschriebenen Hauptsymptomen akuter Traumatas:

Das Opfer fürchtet nicht, dass das Trauma wiederkehren würde, sondern diese traumatische Situation wird zur quälenden Wirklichkeit. So erreichen chronisch Traumatisierte nie mehr einen Grundzustand physischer Ruhe oder Entspannung. Bei chronisch Traumatisierten dominieren vorwiegend konstriktive Muster.

Vermeidung und Rückzug werden die dominierenden psychischen Verhaltensmuster.

Wenn das Opfer nur noch um das Überleben kämpft, ist Rückzug eine wesentliche Form der Anpassung. Die psychische Verengung betrifft alle Lebensbereiche: Beziehungen, alle praktischen Beschäftigungen, Gedanken, Erinnerungen, Gefühle und sogar Wahrnehmungen.

Wenn Opfer aus ihrer Situation befreit werden, verharren sie in ihren Überlebensstrategien aus ihrer traumatischen Erfahrung herrührend. So verarmt ihr Leben. Diese Rückzüge sind bewusst herbeigeführte Bewusstseinsveränderungen. Der Mensch dissoziiert aus seinem Körper, ja seiner Person. Er steigt aus sich selbst aus. Dadurch entwickelt der Mensch zwei sich widersprechende Welten. Aus Überlebensgründen wird er schizophren. Er muss sich in seine eigene Welt retten, weil er die reale Welt nicht mehr ertragen kann. Hier ist es aber eine bewusste Spaltung seines Selbst, denn bei einer normalen schizophrenen Psychose passiert dies über Wahnideen hin zum psychotischen Zusammenbruch alles unbewusst für den Patienten. Die Spätfolgen einer chronischen Traumatisierung sind depressive Gemütsverfassungen.

Wenn chronische Übererregung und intrusive Symptome mit den depressiven Verstimmungen verschmelzen, dann führt dies zum Horror nach dem Überleben:

Schlaflosigkeit, Alpträume und psychosomatische Symptome.

Diese Menschen leben somit auch nach der Befreiung aus der Gefangenschaft im Gefängnis ihrer traumatischen Erfahrung weiter und die Hoffnung auf Befreiung ist leider sehr gering. Die erlebte und demütigende Isolation wird zu einem Dauerzustand. Oft erleben Opfer nach ihrer schrecklichen Erfahrung ein Unverständnis der Umgebung mit ihrem Erleben. Viele Opfer müssen deshalb mit ihren Erinnerungen alleine zurechtkommen. Auch da hat unsere Gesellschaft noch vieles aufzuholen und an Versäumten wieder gutzumachen.


c)  Eine besondere Stellung nehmen in dieser Abhandlung Kinder ein

Während Erwachsene als gefestigte Persönlichkeiten einem Trauma ausgesetzt sind, prägt und deformiert ein Trauma die Persönlichkeit eines Kindes tiefgreifend.

Kinder werden vielmehr, als öffentlich bekannt, von ihren Eltern im oben beschriebenen Sinne in einer unsichtbaren Gefangenschaft gequält und misshandelt. Sie müssen ungeheure Anpassungsleistungen vollbringen, die sich in ihrer Entwicklung zu einer Persönlichkeit niederschlagen. Kinder kennen dann später nichts anderes als diese Erfahrungen. Sie haben keine Vergleichsmöglichkeiten wie Erwachsene, die als Überlebensmöglichkeiten einen entscheidenden Faktor spielen können. Bei Kindern wird die Entwicklung außergewöhnlicher abnormer Bewusstseinszustände gefördert, in denen das Verhältnis von Körper und Seele, Realität und Phantasie, Wissen und Erinnerung verschoben ist. Das familiäre Klima war bestimmt entweder durch chaotische Regeln, die willkürlich durchgesetzt wurden, oder durch durchorganisierte Systeme von Zwang und Bestrafung. In jedem Fall sind diese Kinder hilflos und ohnmächtig einem chronischen Gewaltklima ausgesetzt, das demjenigen politischer Gefangener sehr ähnlich ist. Da Kinder oft auch geistig noch nicht die Reife eines Erwachsenen haben, wird ihre geistige und emotionale Verwirrung erhöht. Diese Zwangssysteme dienen vorwiegend der Kontrolle gegenüber den Kindern. Oft werden sie als Erziehungsmaßnahmen deklariert und somit legitimiert. Kinder werden immer noch von ihren Eltern als ihr Eigentum betrachtet, was zusätzlich ein solches erzieherisches Verhalten fördert. So sind peinliche Kontrolle der Körperfunktionen durch gewaltsames Füttern, Hängenlassen oder die Verwendung von Klistieren, Schläge, Schlafentzug und langes Ausgesetzt sein gegenüber Hitze und Kälte, Gefangenhalten in Schränken und Kellern, Bedrohungen aller Art, Angst machen, Entwertungen, kurz alle psychischen und physischen Angriffe auf die Integrität des Kindes keine legitimen Erziehungsmittel, sondern eklatanter Machtmissbrauch und Gewaltanwendung im Sinne klassischer Folter.

Kinder sind oft in solchen Familien gefangen, es gibt keine Möglichkeit der Flucht. Kinder entwickeln aus diesen Gründen hohe Bindungen an ihre Eltern. Sie versuchen ihre misshandelnden Eltern durch demonstrativen, automatischen Gehorsam zu besänftigen. Kinder gehen noch in viel größerem Masse als Erwachsene ihren elterlichen Tätern gegenüber abgöttische Bindungen ein. Sämtliche Gefühle der Scham, der Erniedrigung, der Angst, der Wut, des Schmerzes müssen total abgespalten werden. Solche Kinder werden durch ihre Eltern angemahnt, nach außen Stillschweigen zu bewahren. Sie werden von allen sie schützenden Bindungen nach außen hin abgeschnitten und leben so in einer fürchterlichen Isolation. Die Kinder werden gezwungen, eine Mauer des Schweigens zu errichten und nach außen die Familie und die Verbrechen zu verschweigen. Viele Erwachsene, die solche Schicksale als Kinder erlebt haben, schildern ihre Kindheitserfahrungen spontan als schön und lieblich. Ich habe in meinen Therapien oft erlebt, wie erwachsene Menschen grosse Ängste hatten, über ihre Erfahrungen als Kind zu sprechen, weil sie immer noch unter dem Banne des Stillschweigens lebten und die Ängste immer noch virulent waren. Sie glaubten immer noch, eine grosse Sünde zu begehen, ihre Erlebnisse zu schildern, denn sie könnten für diesen schrecklichen Verrat bestraft werden. Begannen aber diese Menschen zu reden, erkannte man bei ihnen dieselben Symptome in ihrem Zusammenhang, die oben als posttraumatische Stress - Syndrome beschrieben wurden. Viele dieser Patienten konnten nur überleben, wenn sie als Kinder diese schizophrene Weltausbilden konnten. Sie mussten sich eine Welt mit guten Eltern erträumen und ausmalen, um die schreckliche reale Familienwelt überhaupt zu ertragen. Folgende drei hauptsächlichste Anpassungsstrategien wählt das Kind, um den familiären, chronischen, traumatischen Horror zu überleben:

  • Ausgeklügelte dissoziative Abwehr (Ausstieg aus dem Körper)
  • Entwicklung einer gespaltenen Persönlichkeit (Bilden einer anderen, lebenswerten Welt in der Phantasie)
  • Pathologische Regulierung emotionaler Zustände (Gefühle der Wut und der Angst usw. werden zu Gunsten von Gefühlen der Zuneigung und Verehrung ins Gegenteil verkehrt).

Oft versuchen dann die erwachsenen Menschen mit dieser Erfahrung, von ihren Erinnerungen und ihrem früheren Erleben total abgespalten, krampfhaft ein Leben zu leben, das jenseits jeglicher Realität ist. Sie nehmen dann eine andere Persönlichkeit an, sie phantasieren sich als jemand, der sie gar nicht sind. Auf diese Art können bei vielen Menschen ihre traumatischen Erfahrungen vordergründig verschwinden, zeigen sich aber dann oft als psychische Probleme (Depression, Sucht, Leere, Aggressivität, Selbstwertprobleme usw.) oder psychosomatische Störungen (Krankheiten jeglicher Art). Die Symptome, die da zu Tage treten, entsprechen den oben beschriebenen Symptombildungen des posttraumatischen Syndroms.

Es dauerte sehr lange, bis auch die anerkannte Psychiatrie bereit war, traumatische Erfahrungen und die damit verbundenen psychischen Störungen als eigenständige psychische Erkrankungen zu akzeptieren. Alle Fachleute, die sich diesem Thema aufmerksam und kritisch widmeten, wurden lange Zeit von offizieller Seite nie ernst genommen und in den Bereich der Unwissenschaftlichkeit verbannt. Ich meine, dass diese Reaktionen damit zusammenhängen, dass diese Gewaltanwendungen der Menschen untereinander noch so legitimiert sind, dass die Anprangerung solchen Verhaltens geradezu als gesellschaftsschädigend angesehen wird. Nicht die physische und psychische Zerstörung tausender von Menschen ist gefährlich für unsere Gesellschaft, sondern die Kritik daran. Eigentlich ist dieser Sachverhalt eine Absurdität und ein Skandal, wird aber in unserer Gesellschaft immer noch als alltägliche Normalität hingenommen.


E.  Die Diagnose des Traumas

Die psychische Störung nach einer traumatischen Erfahrung ist eine komplexe Erscheinung. Deshalb schlägt Judith Herman eine eigenständige Diagnose für traumageschädigte Opfer vor, die dem Umstand und dem Leiden der Opfer endlich gerecht wird:

Folgende diagnostische Faktoren müssen bei einer "Komplexen posttraumatischen Belastungsstörung" beachtet werden:

  • Der Patient war über einen längeren Zeitraum totalitärer Herrschaft unterworfen (Geiseln, Kriegsgefangene, Überlebende eines Konzentrationslagers, Aussteiger einer religiösen Sekte) oder totaler familiärer Unterdrückung ausgeliefert (körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch usw.)
  • Störungen der Affektregulation: anhaltende Dysphorie (ein unentwirrbares Gefühlsagglomerat verschiedener sich widersprechender Gefühle, chronische Suizidgedanken, Selbstverstümmelung, aufbrausende oder extrem unterdrückte Wut (eventuell alternierend)
  • Bewusstseinsveränderungen: Amnesie (Unterdrücken der Erinnerung der erlebten traumatischen Ereignisse). zeitweilig dissoziative Phasen, Depersonalisation/Derealisation (Spaltung der Persönlichkeit), Wiederholen des traumatischen Geschehens.
  • Gestörte Selbstwahrnehmung: Ohnmachtsgefühle, Lähmung jeglicher Initiative. Scham- und Schuldgefühle, Gefühl der Stigmatisierung, Gefühl, von niemandem verstanden zu werden.
  • Gestörte Wahrnehmung des Täters: Unrealistische Einschätzung des Täters, der für allmächtig gehalten wird, Idealisierung oder paradoxe Dankbarkeit, Übernahme des Überzeugungssystems oder der Rationalisierungen des Täters.
  • Beziehungsprobleme: Isolation und Rückzug, gestörte Intimbeziehungen, anhaltendes Misstrauen, wiederholt erfahrene Unfähigkeit zum Selbstschutz.
  • Veränderung des Wertesystems: Gefühl der Hoffnungslosigkeit und der Verzweiflung." (S. 171)
4
Ein Leben im Schatten der Eltern
Wie Opfer zu Täter werden – Die Weitergabe von Kri...
 

Comments

No comments made yet. Be the first to submit a comment
Guest
Sunday, 22 December 2024

By accepting you will be accessing a service provided by a third-party external to https://martinmiller.ch/