Wie Opfer zu Täter werden – Die Weitergabe von Kriegtraumatas auf die eigenen Kinder

1. Einleitung

Immer noch leiden wir auf dieser Welt unter den Folgen vergangener Kriege und neue kommen dazu. Vor allem die psychischen Folgen werden weiterhin ausgeblendet und tabuisiert. Vor allem die Überlebenden des Holocausts überlebten unter den schlimmsten Bedingungen und es gelang niemandem, die schrecklichen Erfahrungen zu vergessen und nach dem Überleben wieder zu einem normalen Leben zurück zu finden. In verschiedenster Art haben die Opfer des Holocausts meistens ihre traumatischen Erfahrungen an die nächste Generation weitergegeben. Wenn man sich mit diesen Verhaltensweisen als Betroffener dieser Generation kritisch auseinandersetzt, dann stößt man auf grossen Widerstand und wird heftig angegriffen. Als ich mein Buch über meine Mutter, die berühmte Kindheitsforscherin Alice Miller veröffentlichte, erhielt ich folgende Kritik aus der jüdischen Gemeinschaft: „Martin, Du hättest dieses Buch nie veröffentlichen dürfen. Denn alles, was Du erlebt hast, ist nichts im Vergleich, was Deine Mutter an Leid im Krieg erlebt hat. Du hattest nie das Recht, Dein Leid zu betonen, denn es ist direkt eine arrogante Anmaßung, Dein Leiden so klar zu artikulieren, weil es kein Leiden gibt." Ich war über diese Kritik einerseits sehr überrascht und auch verletzt, denn jeder Mensch, der eine traumatische Erfahrung gemacht hat, hat ein Recht, seine schlimmen Erfahrungen zu artikulieren und bei anderen Menschen Verständnis verdient. Viele Menschen leiden unter traumatischen Erfahrungen und schämen sich sogar, ihre Geschichte offen zu erzählen, weil sie Angst haben, nicht ernst genommen zu werden.

Im folgenden Text werde ich meine Erfahrungen mit der transgenerationalen Vererbung von Traumata beschreiben und möchte anderen Menschen Mut machen, selbstbewusster ihre Traumata ernst zu nehmen und aufzulösen. Leider hat da die klassische Psychotherapie noch sehr viel zu tun, um endlich in der Lage zu sein, Patienten mit traumatischen Erlebnissen professionell zu behandeln.


2. Das Erleben eines Traumas und seine verheerenden psychischen Konsequenzen

Jemand erleidet ein Trauma, eine psychische Verletzung, wenn sein Organismus nicht in der Lage ist, eine von aussen erlebte emotionale Belastung nicht integrieren zu können.

Der Unterschied zu einer physischen Verletzung besteht darin, dass der Körper in der Regel die Möglichkeiten hat, durch Selbstheilung die Wunde zu heilen. Bei einer psychischen Verletzung verfügen wir nicht über diese Selbstheilungskräfte. Bis vor Kurzem glaubte man noch gutgläubig, dass das Heilen eines Traumas von der subjektiven Resilienz, der psychischen Widerstandsfähigkeit eines Menschen abhängig ist. Man ging davon aus, dass es auch möglich wäre, dass Menschen in der Lage wären, ein Trauma durch Selbstheilung zu überwinden und zu verarbeiten. Bekanntlich heilt ja die Zeit Wunden.

Heute ist man eines Besseren belehrt. Wir wissen, dass es Ereignisse gibt, die immer ein Trauma auslösen und dass diese verletzenden Erfahrungen so lange das Leben eines Menschen erheblich beeinträchtigen, bis das Trauma durch Hilfe von aussen aufgelöst wurde. Heute verfügen wir über das nötige Wissen, wie man Traumata therapeutisch behandeln kann, aber die Akzeptanz in der Gesellschaft lässt noch sehr zu wünschen übrig.

Wie geht eigentlich der Mensch mit seiner traumatischen Erfahrung in der Regel um? Das Opfer versucht mit allen Kräften, sein Trauma zu bewältigen. Das vorrangige Ziel der Bewältigung besteht darin, um jeden Preis das traumatische Erleben ungeschehen zu machen. Dabei benutzt der Mensch Abwehrmechanismen, die sehr viel Energie kosten, sehr anstrengend und stressig sind. Der Mensch ist dann auch bereit, diesem Ziel sein ganzes Leben zu unterordnen. Er igelt sich total ein und vermeidet mit grosser Angst jede Wiederholung, sein Trauma wieder zu erleben.

Entweder entwickelt er psychische Störungen, wird krank und zieht sich zurück: Depression, Psychose oder auch Persönlichkeitsstörungen.

In einem anderen Fall kommt es aber auch oft vor, dass sich das Opfer mit dem Täter identifiziert. Die traumatische Opfererfahrung wird komplett abgespalten und man identifiziert sich mit dem Täter. Vor allem über Projektionen wird die Opfererfahrung auf andere Menschen projiziert oder direkt in Gewalt gegenüber anderen Menschen ausgelebt.

Menschen mit einer kriegstraumatischen Erfahrung übertragen auf ihre Kinder in verschiedenster Form ihre Opfererfahrung durch Projektion und geben dadurch ihre unverarbeitete Traumatisierung an die nächste Generation weiter.


3. Meine eigene traumatische Erfahrung – „Meine Verfolgung als Jude im arischen Teil Warschaus während des Krieges."

Meine Mutter wurde in Piotrkow, südlich von Lodz in einer Kleinstadt geboren und wuchs dort auf. Sie stammte aus einer orthodoxen jüdischen Großfamilie und sie wohnten in einem grossen Haus in einer bevorzugten Gegend. Als die Deutschen Polen 1939 besetzten, errichteten sie in Piotrkow das erste Ghetto in Polen. Die ganze Familie meiner Mutter musste ihr Elternhaus aufgeben und ins Ghetto umziehen. Meine Mutter gründete mit ihrem älteren Freund mit 16 Jahren bereits ein Gymnasium im Untergrund für die jüdischen Schüler. Sofort schloss sie sich der Untergrundbewegung an und besorgte sich falsche Pässe. Von da an legte sie ihre jüdische Identität vollkommen ab und wurde Alice Rostovska, eine Polin. Mit diesen falschen Papieren zog sie nach Warschau und verdiente als Privatlehrerin von betuchten Polen ihr Geld. Nur zwei Tage vor der Deportation des Ghettos in Piotrkow gelang es ihr, ihre Mutter und Schwester mit falschen Papieren aus dem Ghetto zu befreien und sie flüchteten nach Warschau. Ihren Vater musste sie im Ghetto zurücklassen, weil er als orthodoxer Jude, der nur Jiddisch verstand und kein Polnisch sprach und wegen seines Aussehens außerhalb des Ghettos keine Überlebenschance gehabt hätte. Ihre Mutter und Schwester versteckte sie in einem katholischen Kloster in Warschau. Ihre Schwester überlebte, indem sie sich zum katholischen Glauben umtaufen liess, und ihre Mutter überlebte auf dem Lande. Meine Mutter begab sich in den Untergrund und unterrichtete selber polnische Schüler und wohnte versteckt in einer polnischen Schule im arischen Teil von Warschau. Sie ging mit ihrem damaligen Freund, mit dem sie das Gymnasium im Ghetto führte nach Warschau. Dort trennten sie sich aus Sicherheitsgründen.

Nun wurde ihr Freund Stefan plötzlich im arischen Teil Warschaus von einem polnischen Erpresser, der mit der Gestapo verbündet war, erpresst. In einem grossen Aufsatz schildert Jahrzehnte später Stefan seine Erfahrungen im Krieg. Er schildert seine Erlebnisse mit dem Erpresser und nennt diesen mit vollem Namen. Der Erpresser hiess Andreas Miller, gleich wie mein Vater. Sehr eindrücklich ist die Schilderung von Stefan, wie er alle seine Werte aufgab, um zu überleben. Er passte sich immer mehr dem Erpresser an und begann zu ihm eine freundschaftliche Beziehung aufzubauen. Als ihm aber der Erpresser immer bedrohlicher zu nahe kam, drehte er den Spieß um und bedrohte diesen mit Freunden, die er im Untergrund kannte. Dabei rettete er sein Leben, indem er meine Mutter, seine Freundin. und alle seine Freunde im Untergrund verriet. Andreas liess von ihm ab und so wurde meine Mutter von Andreas Miller erpresst. Meine Mutter überlebte, indem sie mit Andreas kooperierte und sie ein Liebespaar wurden. Meine Mutter verriet sich einmal mir gegenüber, als sie erzählte, der polnische Erpresser hätte den gleichen Namen gehabt wie mein Vater. Heute weiss ich, dass der Erpresser tatsächlich mein Vater war. Meine Mutter flüchtete während des Warschauer Aufstandes mit ihrer Schwester über die Weichsel auf die russische Seite und kam auch von ihrem Erpresser los.

Nach dem Krieg wurde Polen sofort kommunistisch und die Partei wurde mit Leuten besetzt, die alle glühende Anhänger von Stalin waren. Stalin verfolgte nach dem Krieg alle Juden und so wurden auch die übrigen Juden in Polen wieder verfolgt und umgebracht. Meine Mutter studierte zuerst in Krakau, dann aber zog sie nach Lodz, wo bereits Andreas Miller als Student eingeschrieben war. Er traf dort meine Mutter und sie wurden wieder ein Liebespaar. So wurde mein Vater Andreas Miller vom verfolgenden Erpresser aus „Liebe" der Retter meiner Mutter. Er organisierte 1946 für sich und meine Mutter ein Stipendium an die Universität Basel in der Schweiz. Meine Eltern verließen Ende 1946 zusammen Polen für immer und zogen in die Schweiz. Sie studierten in Basel und schlossen mit der Promotion ab. Beide studierten Philosophie. Mein Vater spezialisierte sich als Soziologe, meine Mutter wurde Psychologin. Dort heirateten sie und so wurde ich 1950 geboren.

Von Anfang an war ich für meinen Vater als Jude ein Dorn im Auge. Denn wenn die Mutter Jüdin ist, dann ist der Nachkomme automatisch Jude. So war es für ihn unzumutbar, als überzeugter Antisemit und Nazi, einen jüdischen Sohn gezeugt zu haben. So zwang er meine Mutter, mich nach der Geburt an eine fremde Person abzugeben, in der Hoffnung, dass ich sterben würde. Gott sei Dank wurde ich aber von meiner Tante, die mit ihrer Tochter und ihrem Mann ebenfalls aus Polen als Flüchtlinge in die Schweiz ausgewandert waren, gerettet. Die Tante meiner Mutter sorgte sich die ersten sieben Monate für mich und ihre Tochter Irenka, meine Cousine, gab mir auch die optimale Fürsorge, die ich als Kleinkind eben brauchte. Hätte ich diese Bindungserfahrung nicht gemacht, wäre ich bestimmt nachher gestorben oder mein Leben hätte einen katastrophalen Verlauf genommen. Meine Mutter holte mich nach sieben Monaten zu sich zurück und ich geriet regelrecht in die Kriegshölle.

Zuerst entwickelte ich ein schlimmes Trennungstrauma. Irenka, meine Cousine, die mich als Säugling betreute, erzählte mir, dass meine Mutter in den ersten sieben Monaten zwar ihre Tante besuchte, sich aber um mich nicht kümmerte. So entwickelte ich eine starke Bindung an Irenka und ihre Mutter. Die Trennung bedeutete für mich deshalb auch ein Trauma, weil mir meine eigene Mutter fremd war und dieses Fremdsein meiner Mutter gegenüber blieb bis zu ihrem Tode erhalten.

Als ich begann zu sprechen, wollte meine Mutter mir Polnisch beibringen, denn das war meine eigentliche Muttersprache. Mein Vater verhinderte mit allen Mitteln, dass ich Polnisch lernen durfte. Später hörte ich die Ausreden meiner Eltern: "Wir wollten aus Dir einen guten Schweizer machen. Und übrigens viele Leute meinten, dass es für Deine geistige Entwicklung schlecht wäre, wenn Du zwei Sprachen lernen würdest."

Später wurde meine Traumatisierung immer mehr verstärkt. So sprachen meine Eltern in meiner Gegenwart immer Polnisch miteinander. Ich sollte nie verstehen, was sie sprachen. Ich fühlte mich total ausgeschlossen. Als ich Jahrzehnte später die wahre Kriegsgeschichte meiner Eltern herausfand, verstand ich viel mehr. Orthodoxe Juden sprachen damals in Polen nie Polnisch, sondern jiddisch. Jiddisch tönt sehr ähnlich wie der Schweizer Dialekt. Weiter wurde ich von meinem Vater bei jeder Gelegenheit gedemütigt, verachtet und erniedrigt. Auch schlug er mich regelmäßig heftigst. Meistens ohne Grund, aus heiterem Himmel. Heute weiss ich, dass ich der verfolgte Jude wurde, der im aarischen Teil von Warschau vom Erpresser Andreas Miller verfolgt wurde. Meine Mutter sass jeweils daneben und starrte schweigend mit angsterfüllten Augen vor sich hin und beschützte mich nie. Heute weiss ich, dass ich unschuldig in das gleiche Geschehen wie im zweiten Weltkrieg hineingeraten bin. Meine Mutter hatte auch grosse Angst, mich mit der Kultur des Judentums bekannt zu machen. Ich musste katholisch werden. Wie ihre Schwester Irena überlebte ich den „Krieg", indem ich kein Jude mehr war sondern ein Katholik. Später rettete ich mich in ein katholisches Internat vor der brutalen Hölle im hause meiner Eltern.

Schon bald begann mein frustrierter Vater mich zu quälen. Er schlug mich Jahre lang aus unerfindlichen Gründen halb zu Tode und demütigte mich bei jeder Gelegenheit. Die Schläge waren das Schlimmste, was ich erlebte. Aus heiterem Himmel explodierte mein Vater und schlug blindwütig zu. Traumatisch sind solche Erfahrungen deshalb, weil man als Kind überhaupt nicht versteht, warum der eigene Vater so brutal und gewalttätig auf einen losgeht und immer ist es überraschend. Weiter kommt die schlimme Situation dazu, dass man so einer Person hilflos ausgeliefert ist. Man überlegt sich dann dauernd, was man alles unternehmen könnte, um diesem Gewaltgewitter auszuweichen, aber es ist sinnlos. Meine Mutter schaute verängstig jeweils diesem Treiben zu und schützte mich nie vor diesem Monster. Später brandmarkte sie als berühmte Autorin und Kindheitsforscherin Alice Miller ein solches elterliches Verhalten als Verbrechen. Ich wurde komplett ausgegrenzt, als meine Eltern sich weigerten, mir meine Muttersprache Polnisch beizubringen. Ich sass jeweils am Tisch und beide redeten miteinander Polnisch und ich wurde ausgeschlossen, weil ich kein Wort verstand. Ich redete Schweizerdeutsch, ein Dialekt, der dem Jiddischen sehr glich. Orthodoxe Juden sprachen damals in Polen kein Polnisch. Sie waren gesellschaftlich ausgeschlossen.

Erst heute bin ich in der Lage, meine Geschichte genau zu kennen. Ich bin heute sehr entsetzt darüber, wie ich von meinen Eltern in jeder Hinsicht angelogen wurde. Sie haben gelogen und nie über ihre Erfahrungen während des Krieges berichtet.

Ich wurde das Opfer einer transgenerationalen traumatischen Vererbung durch meine Eltern.


4. Kann man als Opfer einer solchen traumatischen Erfahrung das erlittene Trauma auflösen und verarbeiten?

Es gibt verschiedene Methoden in der aktuellen Psychotherapie, wie man ein Trauma verarbeiten kann. Ich habe persönlich und in meiner langjährigen Praxis die Erfahrung gemacht, dass ein Trauma nur verarbeitet werden kann, wenn das erfahrene Trauma in ein Narrativ transformiert wird, das in meine Lebensgeschichte, als zwar schwer wiegende Erfahrung, integriert wird.

Es ist auf den ersten Blick absurd, denn ein Narrativ ist eine sinnstiftende Erzählung, die Einfluss hat auf die Art, wie die Umwelt wahrgenommen wird. Es transportiert Werte und Emotionen. In diesem Sinne sind Narrative keine beliebigen Geschichten, sondern etablierte Erzählungen, die mit einer Legitimität versehen sind. (Def. aus Wikipedia) Die Erfahrung eines Traumas ist nie sinnstiftend und immer pervers und verwerflich. Trotzdem hilft uns das Narrativ, unsere traumatische Erfahrung zu verarbeiten. Denn ich kann im Narrativ mein subjektives Erleben klar als meine ureigenste Erfahrung berechtigen. Dadurch wird es mir möglich, mit meinem verletzenden, sinnlosen Erlebnis fertig zu werden. Ich kann ohne Angst darüber sprechen und ich muss vor allem die gestörten Verdrängungen des Traumas nicht mehr aufrecht erhalten. Ich muss nicht mehr doppelt leiden, denn sowohl das Trauma selbst belastet mich immer noch, aber zusätzlich bin ich nicht mehr gezwungen, gegen das Erlebte anzukämpfen mit den bekannten psychischen Nebenwirkungen, die mein ganzes Leben einschränken und zur Hölle machen. Ich muss mich auch nicht mehr mit dem Täter identifizieren und andere Menschen traumatisieren, damit ich mein eigenes Trauma abspalten kann.

Auch wenn ich mein Trauma verarbeitet habe, ein fröhlicher Mensch werde ich nie mehr. Ich werde auch durch weitere Lebenserfahrungen immer wieder an mein Trauma erinnert, aber ich weiss durch die Aufarbeitung, dass ich damit umgehen kann.

Wer ein Trauma erlebt hat, es bleibt eine Narbe, die immer wieder sich bemerkbar macht. Dank meines Wissens und meiner Erfahrung in der Therapie, weiss ich, wie ich mit den unangenehmen Erinnerungen konstruktiv umgehen kann.

Meine traumatischen Erfahrungen werden zur Vergangenheit und beherrschen nicht mehr die Gegenwart.

Daniel Stern beschrieb eine traumatische Erfahrung folgendermassen: «Wer ein Trauma erlebt, der ist in der Gegenwart gefangen»

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Theoretische und diagnostische Gesichtspunkte der ...
 

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Guest
Thursday, 21 November 2024

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