Ein Leben im Schatten der Eltern
Der Weg aus dem Schatten an die Sonne – Eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit der unterdrückenden Dominanz seiner Eltern
1 Einleitung
Viele Menschen sind sich ihrer Geschichte überhaupt nicht bewusst. Manche wissen in Bezug auf die Fakten recht viel, können sogar bis in das letzte Detail Erlebnisse erzählen, aber man spürt sofort, dass sie beim Erzählen von sich total abgespalten sind und man den Eindruck bekommt, als würden sie von einer anderen Person reden. Es fehlt jeglicher Bezug zu den erlebten Gefühlen.
Dann gibt es Menschen, die entweder ihre Geschichte total verzerrt schlecht referieren und andere, die geradezu penetrant ihre Geschichte nur in einem glänzenden, schönen Licht erstrahlen lassen. Alles war gut und sie lassen sich überhaupt nicht auf eine kritische Bemerkung ein. In solchen Momenten verteidigen sie dann ihre Familiengeschichte wie ein Löwe und lassen sie in bestem Lichte erscheinen. Ohne es aber zu merken, berichten sie von Erfahrungen in ihrer Familie, die einen erschauern lassen. Diese Erfahrungen sind dann von der heldenhaften Verteidigung und dem eigenen Erleben völlig abgespalten.
Selten habe ich aber erlebt, dass jemand seine Geschichte real, sachlich und einfühlsam erzählt hat. Ich habe nicht nur persönlich, sondern auch als Psychotherapeut die Erfahrung gemacht, was passiert, wenn Menschen die Gelegenheit erhalten, zu ihrer eigenen Geschichte einen Zugang zu bekommen. Heute besteht für mich als Therapeut das Hauptziel einer Therapie darin, dass für jeden Klienten im Laufe der Therapie seine eigene Biographie ein differenziertes, kohärentes und vor allem ehrliches Narrativ wird. Im therapeutischen Zusammenhang versteht man heute unter einem Narrativ seine biographische Erzählung, die gleichsam mein durch die Therapie erworbenes Bewusstsein abbildet, das mir in der Gegenwart wie beschützend zur Seite steht und jederzeit hilft, gegenwärtige Erfahrungen mit meiner Geschichte in einen Zusammenhang zu bringen. Ich persönlich bin heute froh, dass ich mir dieses Narrativ erarbeitet habe, denn dieses Bewusstsein hat mir in schlimmen Stimmungen und Lebenssituationen regelrecht aus der Patsche geholfen. Der Vorteil dieses Wissens ist es auch, dass ich mich im täglichen Leben nie mehr hilflos anderen Menschen ausgeliefert fühle. Sicher passiert das immer noch im Moment, aber ich kann emotionale Konflikte immer selbständiger auflösen. Diese Form der Autonomie ist für mich heute der entscheidende Aspekt von Autonomie, dann nämlich, wenn ich mir in emotionalen Schwierigkeiten wie eine gute Mutter selber helfen kann.
In diesem Aufsatz geht es noch um eine spezielle Situation: Meine Mutter war als Psychologin eine weltweit sehr berühmte Kapazität und Schriftstellerin. Da ich mit 30 Jahren begann, denselben Beruf wie meine Mutter auszuüben, verschärften sich unsere schon bestehenden Konflikte inflationär. Meine Beziehung zu meiner Mutter war von Anfang an total gestört und dieser Konflikt hing sehr eng mit ihren Erfahrungen als Jüdin, die den Krieg in Warschau überlebt hatte, zusammen. Neben der Problematik, der Sohn einer weltberühmten Mutter zu sein, wo man im Schatten dieser Berühmtheit mühsam seinen Platz finden muss, war ich von den Folgen der unbewältigten Kriegserfahrungen meiner Mutter und meines Vaters betroffen. Ich werde in diesem Aufsatz das Problem beschreiben, wie man seine eigne Individualität im Schatten der Berühmtheit eines Elternteils überhaupt entwickeln kann.
Mir ist bei dieser Thematik aufgefallen, dass es den wenigsten Kindern solcher Konstellationen gelungen ist, eine unabhängige, eigenständige Position innerhalb der Gesellschaft zu finden. Entweder man bleibt ein kleines Anhängsel, quasi man existiert als Appendix des berühmten Elternteils, man wird ein glühender Verehrer der Berühmtheit und versucht, sich narzisstisch von der bewunderten Position seiner Eltern wie eine Biene zu ernähren, oder man rebelliert und wird dann auch berühmt, indem man durch Skandale die nötige Aufmerksamkeit erheischt. Mir ist es nach einem schlimmen Kampf gelungen, meine Identität zu entwickeln, aber erst nach dem Tode meiner Mutter wagte ich es, aus der Deckung hervorzukommen. Natürlich, alle Anstrengungen, ganz unabhängig von der berühmten Mutter wahrgenommen zu werden, diese Hoffnung muss man aufgeben. Wenn ich mich irgendwo vorstelle, dann werde ich sofort mit folgenden Worten begrüßt: "Ah Sie sind nun der Sohn von der berühmten Alice Miller." Meine Person ist dann in dem Moment nicht mehr wichtig und interessant, sondern ich bin das praktische Medium, um mehr von der berühmten Alice Miller zu erfahren. Halte ich einen Vortrag, dann ist es für den Veranstalter besonders wichtig, auf dem Plakat anzukünden, dass der Sohn der berühmten Alice Miller auftritt. Dann ist der Veranstalter sicher, dass genügend Zuschauer die Veranstaltung besuchen. Mit dieser Realität muss ich leben lernen und der Versuch, dieses sozialpsychologische Muster außer Kraft zu setzen, ist nutzlos. Positiv ist dann für mich die Erfahrung nach der Veranstaltung, weil es mir während der Veranstaltung jeweils gelingt, mich klar von meiner Mutter abzugrenzen und jedem im Saal wird es klar, dass ich eine eigenständige Person bin, die auch etwas zu sagen hat.
In diesem Aufsatz beschreibe ich meine Erfahrungen als Psychotherapeut. Da kam ich mit meiner Mutter in einen lebensgefährlichen Konflikt, weil ich ihrem Ruhm immer mehr im Wege stand und sie mit der Konkurrenz überhaupt nicht umgehen konnte.
Abschließend kann ich feststellen, dass es für ein Kind grundsätzlich hoch gefährlich ist, wenn die Eltern ihre Position des Berühmtseins bewahren und verteidigen müssen.
Bei berühmten Eltern ist es so, dass diese auch einen beschwerlichen Weg hinter sich hatten und dann Angst haben, von den Kindern vom Thron gestossen zu werden.
2 Die Unterdrückung eines begabten Kindes
Ich habe natürlich auch etwas von meiner Mutter gelernt, nämlich, wie man sich versteckt und überlebt. Ich habe mit meinen Eltern nie über ihr Verhalten geredet. Ich habe mich nie gewehrt, aber ich habe innerlich mich von ihnen meilenweit entfernt. Ich lebte ein Eigenleben. Wie es in mir aussah, das zeigte ich nie. Ich begann alle meine Bedürfnisse heimlich zu befriedigen. Ich wurde so geschickt, dass sie mich praktisch trotz schlimmer Kontrolle nie erwischten. Mit 17 Jahren ergab sich für mich schulisch die Gelegenheit, dass ich in ein katholisches Internat ziehen konnte. Ich war so begeistert, dass ich endlich dieser Hölle entfliehen konnte. In diesem Internat herrschten sehr strenge katholische Regeln und Vorschriften. Viele meiner Mitschüler beklagten sich über dieses repressive Klima. Ich schrieb aber meiner Mutter einmal in einem Brief: „Liebe Mami, ich fühle mich hier wie im Paradies. Ich war noch nie so frei in meinem Leben, und ich bin froh, nicht mehr zu Hause zu wohnen. Dies war ein schlimmes Gefängnis für mich." Meine Mutter war total schockiert über den Brief und konnte die Welt nicht mehr verstehen. Ohne es zu merken, rettete mich meine Mutter in einem katholischen Kloster vor dem Nazivater, wie sie damals im Krieg ihre Schwester vor den Nazis in einem katholischen Kloster in Warschau vor den Nazis und dem sicheren Tod in Treblinka rettete. Natürlich schaffte es mein Vater, mich einmal in der Woche zu treffen, um zu kontrollieren, ob ich auch wirklich in der Schule arbeitete. Für mich waren diese Begegnungen die reinste Hölle.
Mir kommt da eine ganz besondere Geschichte in den Sinn, die meine Schilderung über das destruktive und demütigende Verhalten meiner Eltern illustriert. Mit aller Macht forcierten meine Eltern die Erwartung, dass ich auf jeden Fall eine Maturität abschließen sollte. Ich habe dann ganz knapp die Prüfung im Internat geschafft. Als ich nun den Wunsch äußerte, an der Universität Psychologie und Soziologie, die Fächer meiner Eltern, zu studieren, da bekam ich den behindernden Gegenwind meiner Eltern gründlich zu spüren. Als ich meinem Vater in den Sommerferien nach dem Abitur meinen Wunsch darlegte, brauste er auf und bekam einen seiner typischen Wutanfälle. Er erhob schon wie früher seine Faust und wollte mich wie gewohnt schlagen. Plötzlich realisierte er, dass ich mittlerweile kein kleines Kind mehr war und ihm auf Augenhöhe gegenüberstand. Ich hob auch meine Fäuste und total schockiert stammelte er; „Willst Du allen Ernstes Deinen armen Vater schlagen?" ich antwortete; „Wenn Du mich schlägst, dann schlage ich zurück." Seit diesem Vorfall schlug er mich nie mehr. Aber er konnte mich auch anders fertig machen und dies tat er dann auch. Er brüllte mich mit seinem ganzen Hass an: „Was fällt Dir ein, so etwas von mir zu erwarten. Du bist der größte Dummkopf, den ich kenne. Wie kannst Du nur auf die abwegige Idee kommen, von mir zu verlangen, dass ich einem solchen Arschloch, einem totalen Versager wie dir, ein Studium bezahle? Du hast ja nur mit Ach und Krach Deine Matura bestanden und jetzt bist Du so überheblich und willst, dass ich Dir ein Studium bezahle?" Ich war nach dieser Demütigung, dieser verbalen Gewaltorgie wie betäubt und war nicht in der Lage, für mein Recht einzustehen. In meinem späteren Leben machte ich mir wegen dieser Szene häufig Vorwürfe, denn ich hatte ein absolutes Recht darauf, dass mich meine Eltern in einem Studium unterstützen müssten, so stand es im Gesetz. Als ich kurz darauf mit meiner Mutter über diesen Vorfall sprach, hatte sie mich auch hängen lassen. Immer hatte sie über ihren Ehemann geschimpft und mir gezeigt, wie abgrundtief sie meinen Vater hasste. In dem Moment aber kooperierte sie wie im Krieg mit ihm. Sie gab mir folgende Antwort; „Du musst Deinen Vater verstehen, denn er hat sich so aufgeregt, als Du beinahe durch die Maturprüfung durchgefallen bist. Und überhaupt, ich bin da absolut seiner Meinung. Du bist in einem Studium zu überfordert und es würde nicht gut herauskommen, wenn Du jetzt beginnst zu studieren."
Ich entschloss mich dann, mich zum Volkschullehrer auszubilden und so wurde ich nach 11/2 Jahren unabhängig von meinen Eltern und verdiente mein eigenes Geld. Instinktiv realisierte ich, dass meine Eltern im Kontakt zu mir gefährlich sind und dass ich in meinem späteren Leben genau weiss, dass ich mich nie auf sie verlassen kann. Natürlich zog ich diese Erkenntnis nicht konsequent durch und wurde auch dafür brutal bestraft. So wurde ich Lehrer, arbeitete mit Kindern, aber meine Tätigkeit gefiel mir überhaupt nicht, denn mein Wunsch, als Psychologe zu arbeiten verschwand nicht. Einerseits hatte ich meine Unabhängigkeit, ich verdiente mein eigenes Geld, ich war zum Teil aus dem Schatten meiner Eltern entflohen, aber ich war sehr unzufrieden mit meiner Lebenssituation, vor allem meiner beruflichen. Diese Erfahrung zeigt auch deutlich, wie die Diskriminierung meiner Eltern mich in meiner persönlichen Entfaltung total behinderte. In der Schule, wo ich arbeitete, war ich ein grosser Außenseiter. Ich konnte mich in das Lehrerkollegium überhaupt nicht integrieren. Ich hatte mit den meisten Lehrerkollegen Krach und Streit. Auch mit den Behörden lag ich bald über Kreuz. Mir behagte das Angestelltendasein überhaupt nicht. Mit den Kindern verstand ich mich glänzend. Ich bekundete auch keine Probleme mit der Autorität als Lehrer. In diesen Jahren als Lehrer spürte ich immer mehr, welche Begabung als Psychologe in mir schlummerte und mein Wunsch, meinen beruflichen Traum zu verwirklichen, der wurde immer stärker, aber ich wusste noch gar nicht, wie ich diesen grossen Wunsch umsetzen sollte.
3. Der Mut, eine eigene berufliche Karriere einzuschlagen und eigene Bedürfnisse zu leben. Ich verlasse den Schatten ganz, aber den Preis, den ich für diesen Ausbruch aus dem elterlichen Gefängnis habe bezahlen müssen, war unermesslich
Meine Eltern machten eine grosse berufliche Karriere. Mein Vater wurde Professor an der Hochschule St. Gallen und Vorsitzender der Schweizerischen Hochschulwesen. Er wurde der wichtigste Manager des schweizerischen Universitätswesens. Bei jeder Gelegenheit musste er seinen Erfolg vor mir zeigen und gab damit an.
Meine Mutter Alice Miller machte eine Ausbildung als Psychoanalytikerin und wurde Mitglied der renommierten Psychoanalytischen Gesellschaft in Zürich. Sie arbeitete in diesem Beruf selbständig während 25 Jahren. 1979 gab sie ihr erstes Buch, „Das Drama des begabten Kindes" heraus. Wider Erwarten wurde dieses Buch ein gigantischer Welterfolg.
Meine Mutter wurde weltberühmt und ein Star. Besonders in Amerika machte sie eine unglaubliche Karriere. Sie gab ihren Beruf als Analytikerin auf und wurde Schriftstellerin und bezeichnete sich von da an als Kindheitsforscherin. Sie setzte sich fortan vehement für die Rechte der Kinder ein und griff die Eltern mit ihren brutalen Erziehungsmethoden heftig an. Meine Mutter war in all den Jahren eine mutige, aggressive Kämpferin für ihre Ideen und niemand wäre darauf gekommen, dass sie immer noch voller Ängste war.
Für mich wurde diese Veränderung meiner Mutter zu einem grossen Problem. Als mich mein Vater so quälte und verfolgte, beschützte mich meine Mutter nie, während ihrer Karriere als Kindheitsforscherin verhielt sie sich so, wie wenn sie sich immer für verfolgte Kinder engagiert hätte. Ihr Schatten wurde für mich immer dunkler. Ich wurde von allen Lesern beneidet, dass ich eine so tolle Mutter hätte, aber in Wahrheit war die Bücher-Alice-Miller eine ganz andere Person als in Realität. Ich habe natürlich meine Mutter geschützt und zu dieser Lüge geschwiegen. Ich war zwar schon 30 Jahre alt, als meine Mutter ihre Weltkarriere startete. Aber ich werde im folgenden Teil des Artikels auch beschreiben, wie Menschen, die so weltberühmt werden, ihre Persönlichkeit komplett verändern und am Schluss kannte ich meine Mutter gar nicht mehr. Neben solchen Menschen dann eigenständig seinen Weg zu gehen ist unendlich schwer. Wagt man dennoch dieses Risiko, dann wird man vom Leben fürchterlich bestraft. Ich kann heute die Menschen, die im Schatten ihrer berühmten Eltern stehen sehr gut verstehen, dass sie es nicht wagen, sich von den Eltern zu lösen.
Ich entschloss mich mit dreissig Jahren, selber Psychotherapeut zu werden. Anfangs versprach mir meine Mutter, mich zu unterstützen. Zuerst glaubte ich, dass der Ruhm meiner Mutter mir helfen würde, mich auch als Therapeut zu entfalten. So begann ich bald 1979 in eigener Praxis mit der Arbeit als Psychotherapeut. Gleichzeitig meldete ich mich an die Universität Zürich an und begann mit meinem Studium als Psychologe. Ich habe natürlich meine Eltern natürlich nicht um Erlaubnis gebeten. Meine Mutter reagierte völlig beleidigt auf mein Vorgehen. Sie machte mir folgenden Vorwurf: „Wieso willst Du studieren, wo sie Dir dort nur Blödsinn vermitteln. Alles Wissen kannst Du doch von mir bekommen." Diese Bemerkung erschreckte mich kolossal, denn da merkte ich zum ersten Mal, dass meine schon damals berühmte Mutter extreme Schwierigkeiten damit hatte, dass ich im gleichen Beruf wie sie einen eigenen Weg gehen wollte. Gleichzeitig wurde ich mit ihren enormen Machtansprüchen konfrontiert. Schon nach so kurzer Zeit hat sich ihre Realitätswahrnehmung total verdreht. Sie besaß als berühmte Alice Miller das Monopol des Wissens und alle anderen waren Trottel. Plötzlich stand ich vor der Kopie meines Vaters, der sich auch immer so aufspielte und alle Menschen verachtete und sich grandios über alles lobte.
Sie war nicht mehr mein wichtigster Ansprechpartner. Schon ganz am Anfang begann ich den gefährlichen Schirm, den meine Mutter für mich aufspannte, zu erkennen und versuchte, so schnell wie möglich zu fliehen. Diese Flucht dauerte leider gute dreissig Jahre, denn ich war ganz alleine mit meiner Gefängnissituation konfrontiert.
Man kann sich gar nicht vorstellen, wie man auch in einem späten Alter hilflos solchen unscheinbaren, nach aussen hin schwachen Menschen, hilflos ausgeliefert sein kann. Ich werde später diese Situation genauer beschreiben. Nur so viel: Meine Mutter besaß im Gegenteil zu mir bereits schon die ganze Medienmacht, mit der sie mich hätte erpressen können, was dann später auch geschah.
So wurde ich mit einer heiklen Entscheidungsfindung konfrontiert, zuerst unbewusst, später immer bewusster: Entweder ich begebe mich unter den Schirm und ich werde behütet, muss zwar meiner Mutter dienen wie ein Sklave, bin total unfrei, aber dieses Leben würde mir sehr viel Geld und eine gewisse Macht in Aussicht stellen. Sie wollte mich verführen, mich willig unter den schützenden Schirm zu begeben.
Die Alternative wäre, dass ich mit meinem Wunsch nach Autonomie gegenüber meiner Mutter eine Kriegserklärung abgeben würde. Trotzdem war mein Wunsch mit meiner bisherigen Vorgeschichte so gross, endlich meinen eigenen, selbst bestimmten Weg zu gehen. Immer mehr verdüsterte sich meine Beziehung zu meiner Mutter und sie betrachtete mich immer paranoider mit einem sehr misstrauischen und höchst verunsicherten Blick. Ich kannte diesen Blick schon seit meiner Kindheit, immer dann, wenn mein Vater mich bei Tische schlug oder aufs Schlimmste demütigte und quälte und meine Mutter daneben sass und schwieg.
Ich begann eigenständig eine psychotherapeutische Ausbildung bei Professor Bastiaans aus Leiden. Dadurch wurde meine berufliche, gute Beziehung zu meiner Mutter erheblich beschädigt.
Sehr interessant ist es, wie ich Professor Bastiaans kennen lernte. Meine Mutter wurde als grosser Star zu den Therapietagen nach Lindau eingeladen. Sie bot mir an, sie zu begleiten. Also ging ich als kleines Anhängsel zu diesem Kongress. Meine Mutter war dort der grosse Star und die Menschen rissen sich darum, mit Alice Miller nur ein paar Worte zu wechseln. Ich kam mir ganz verloren vor und instinktiv merkte ich, dass bei mir sich ungute Gefühle meldeten, die ich bestens kannte. Automatisch begann ich mich zu lösen und erkundete für mich den Kongress. Ich löste mich von der Mutter. Ich begann ganz langsam, noch unbewusst, aus dem gefährlichen, schwarzen Schatten meiner Mutter auszusteigen und besuchte ganz spontan ein Seminar von Jan Bastiaans. Er behandelte in diesem Seminar das Thema, wie Menschen in Belastungssituationen reagieren. Durch Flucht oder Angriff. Er behandelte auch das Thema Trauma. Ich war ganz fasziniert von diesem Menschen und nach der Vorlesung stellte ich mich vor und benutzte natürlich meinen Vorteil, der Sohn der berühmten Alice Miller zu sein. Ich vereinbarte mit Bastiaans einen Termin in Holland und schon war ich ein Stück freier und eigenständig. Natürlich in gewohnter Art und Weise erzählte ich meiner Mutter nichts, es blieb mein Geheimnis. Ich habe ja bei meiner Mutter gelernt, wie man sich in solchen Situationen verhält. Ich trat heimlich aus dem Schatten heraus und unbewusst nahm ich meine Flucht aus dem Gefängnis planvoll in die eigenen Hände. Wie meine Mutter tauchte ich unter, ich schloss mich dem Untergrund an, nahm inoffiziell eine andere Identität an. Ich spielte den Unwissenden, aber eigentlich entwickelte ich heimlich eine Identität als Psychotherapeut. Leider dauerte dieses Versteckspiel bis nach dem Tode meiner Mutter. Ich blieb Jahrzehnte lang als Preis des Überlebens ein Therapeut im Untergrund. Nie durfte ich zeigen, wer ich eigentlich wirklich bin. So verzichtete ich auf eine Karriere und durfte meine Begabung als Therapeut nie zeigen. Aber ganz kann man sich nicht verstecken und diese wenigen Offenbarungen führten zu schlimmen Konflikten mit meiner Mutter. Dies ging so weit, dass meine Mutter aus Hass mir gegenüber mich fast umgebracht hätte.
Zurück zum Kongress: Meine Mutter machte auch keine Anstalten, als würde sie sich ernsthaft interessieren, was ich denn den ganzen Tag gemacht hätte, denn sie war volltrunken durch die narzisstische Nahrung, die sie an diesem Kongress zu sich nahm.
Klammheimlich nahm ich meine Ausbildung bei Bastiaans auf und lernte eine ganze Menge. Als Einschub möchte ich einige Bemerkungen zum Phänomen von Projektionen beschreiben. Bei einer Projektion werden Gefühle, ganze Personen auf andere Menschen übertragen. Diese Menschen werden dann als der projizierte Teil wahrgenommen. Die Projektion ist eine sehr gefährliche Abspaltung von verdrängten Anteilen einer Person. Oft werden Kinder Opfer von Projektionen ihrer Eltern. Für meinen Vater und auch zum Teil für meine Mutter wurde ich in deren Projektion zum Beispiel der verfolgte Jude in Warschau während des Krieges. Meine Eltern merkten dies gar nicht, sondern sie glaubten tatsächlich, dass ich dieser Jude bin und mein Vater konnte so sein Naziverhalten ohne Schuldgefühle an mir weiter praktizieren, wie wenn sich nichts verändert hätte. Für ihn herrschte immer noch Krieg.
Sei es bei Kriegsopfern oder Menschen, die in ihrer Kindheit schweren Traumen oder Unterdrückungen durch ihre Eltern ausgesetzt waren, wenn sie nie ihr projektives Verhalten reflektiert haben, dann sind in erster Linie ihre Kinder, Partner und viele andere Menschen potentielle Opfer dieser gefährlichen Projektionen, denn diese abgespaltenen psychischen Anteile sind immer äußerst destruktiv.
Als ich als Therapeut anfing zu arbeiten, veränderte sich die Beziehung zwischen mir und meiner Mutter grundsätzlich. Anfangs war ich plötzlich ihr bester und intimster Berater und Freund. Ich half ihr beim Schreiben des ersten Buches, ich hörte ihr zu beim zweiten Buch und gab ihr meine guten Ideen zum Besten. Was war das für mich für eine Erlösung, dass ich endlich von meiner Mutter akzeptiert wurde. Ich fühlte mich in der damaligen Zeit geradezu befreit und freute mich auf eine Zukunft, wo ich mich endlich entfalten und mein eigenes Selbst leben konnte. Ich war ja selber Zeuge, wie ihre Ideen entstanden und war damals der festen Überzeugung, dass ich nun auch von diesen Ideen profitieren konnte.
Diese Annahme entpuppte sich bald als einer meiner größten Irrtümer in meinem Leben. Ich tappte in eine Falle, die mich fast umgebracht hätte. Ich kam in eine Geiselhaft, deren Folgen ich bis heute nicht ganz überwunden habe.
Ganz weit hinten in meinem Hinterkopf wusste ich eigentlich, dass meine Mutter zu ihrer Schwester eine sehr hasserfüllte Beziehung hatte. Nur bruchstückhaft erzählte sie mir davon. Aber es war eigentlich genug für mich, dass ich hätte wissen müssen, mit welcher psychischen Bombe da meine Mutter durch die Welt marschierte.
Dass ich mich bei meiner Entwicklung zum Therapeuten, ohne es zu merken, auf ein äußerst gefährliches, mörderisches Minenfeld zubewegte, merkte ich in der ersten Euphorie nicht. Ich war so froh und glücklich, dass sich meine Mutter für meine Arbeit als Therapeut so interessierte. Sie fragte interessiert nach und ich hatte das Gefühl, endlich würde sich meine Mutter als grosse, berühmte Expertin für meine Arbeit interessieren. Erst heute weiss ich, dass meine Mutter während des Krieges perfekt gelernt hatte, sich anderen Menschen gegenüber aus Überlebensgründen total zu verstellen. Beim besten Willen konnte ich mir damals nicht vorstellen, dass meine Mutter eine enorme kriminelle Energie mobilisierte, um mich in meiner Entwicklung zu stoppen. Da meine Mutter ihre Kontrolle über mich verlor, musste sie Mittel und Wege finden, mich zu zerstören. Ihre ganze Wut auf ihre Schwester, die sie ja auch gegen ihren Willen im Krieg das Leben gerettet hatte, richtete sie gegen mich. Später bestätigte mir die Cousine meiner Mutter, Irenka, dass ich meiner Tante, der Schwester Irena meiner Mutter sehr gleichen würde. Ihre Schwester war sehr kreativ und nahm das Leben sehr leicht. Alles machte sie spielerisch und sie war auch sehr intelligent. Meine Mutter stellte mir ihre Schwester als eine dumme Gans dar, die nur Dummheiten im Kopf hatte. Sie schilderte sie als dumm und ungebildet. Erst später erfuhr ich, dass meine Tante später in Mexico lebte und dort eine der profiliertesten Professorinnen wurde, die eine exzellente Expertin in der Geschichte der Indianer und Inkas wurde. Sie publizierte mehrere Bücher zu diesem Thema. Diese Leistung wurde aber von meiner Mutter konsequent totgeschwiegen. Nun musste meine Mutter feststellen, dass ich in ihrem Reich, in ihrem Beruf, kreativ sehr schnell eine enorme Konkurrenz darstellte. Ich habe meiner Mutter beim Schreiben ihrer Bücher sehr gut zugehört, denn es gelang mir spielend, schnell von Anfang an, ihre Theorie in die Praxis umzusetzen.
Die nächste Episode, die ich erzähle, ist ein typisches Beispiel, wie man sehr schnell ein tragisches Opfer falscher Wahrnehmung werden kann. Auch habe ich nie meine Mutter als Feindin wahrgenommen und nie erwartet, dass sie in mir einen Feind sieht, den man um jeden Preis bekämpfen muss. Für mich war meine Mutter bereits eine berühmte Person, der man doch nie hätte das Wasser reichen können. Nun, Jahrzehnte später bin ich dann doch der Wahrheit auf den Grund gekommen.
In meiner Euphorie erzählte ich natürlich meiner Mutter alle meine neuen Erfahrungen als Therapeut. Ich berichtete ohne Hintergedanken, sondern frei von der Leber. Meine Mutter hörte mir mit einer Konzentration zu und ich muss zugeben, noch nie hat sie sich für mich so interessiert wie in dieser Zeit. Ich schöpfte keinen Verdacht, ich genoss nach all den Jahren der Vernachlässigung die Zuwendung und das Interesse, eben der berühmten Alice Miller. Ihr hörten doch tausende Menschen zu und nun wurde ich in ihrem Gebiet plötzlich eine so interessante Person. Diese Phase dauerte aber sehr kurz und plötzlich drehte sich der Wind. Da offenbarte meine Mutter ihre wirkliche Einstellung. Heute weiss ich, dass ich schon damals entscheidende Aspekte der Psychotherapie neu entdeckt hatte. Meine Mutter hörte mir zuerst sehr gut zu und dann stahl sie mir die Ideen für ihr drittes Buch „Du sollst nicht Merken". Zuerst glaubte ich immer, meine Mutter müsste doch stolz sein auf mich, dass ich ihre Theorie so gut in die Praxis umgesetzt habe, heute weiss ich, dass ich in Bezug zu meinem geistigen Eigentum brutal bestohlen wurde.
Sie lernte einen Primärtherapeuten in Bern kennen, Konrad Stettbacher. 1983 erhielt ich eines Tages von ihm einen Brief, in dem er mir mitteilte, dass meine Mutter bei ihm für mich einen sehr begehrten Platz für eine Primärtherapie bei ihm reserviert habe. Ich sollte diese Gelegenheit nicht verpassen und sofort einen Betrag à Konto von CHF 12'000.- überweisen. Den Beginn der Therapie setzte Herr Stettbacher nach einer Wartezeit von drei Jahren fest. Ich war beim Lesen dieses Briefes wie vor den Kopf gestossen und konfrontierte meine Mutter mit diesem schrecklichen psychischen Übergriff. Meine Mutter explodierte und schrie mich zusammen, wie ich das noch nie erlebt habe. Sie meinte, dass ich doch endlich mal etwas von ihr annehmen sollte, wenn sie schon als Mutter mich als kleines Kind nicht hatte adäquat versorgen können. Ich merkte, dass vieles nicht stimmte, denn ich war ja kein kleiner Säugling mehr und man kann doch nicht die Versäumnisse der Kindheit bei einem 33-jährigen, selbständigen Mann wieder gut machen. Wie immer wehrte ich mich nicht, aber ich spürte, dass die Beziehung zwischen mir und meiner Mutter für immer zerstört war durch diesen Übergriff. Meine Mutter probierte alle möglichen Überredungsversuche, mich zu einer Therapie bei Konrad Stettbacher zu überreden. Zum Schluss rief mich Herr Stettbacher an und wollte mich zur Therapie überreden. Da passierte dann auch etwas sehr Eigenartiges. Ich begann am Telefon Herrn Stettbacher in Bezug auf seine Erfahrung als Therapeut und auch in Bezug auf sein Wissen zu durchleuchten und merkte bald, dass dieser Mann gar keine Ahnung hatte. Ich lehnte eine Therapie bei ihm ab, weil ich spürte, dass ich mit einem Scharlatan gesprochen habe. Meiner Mutter teilte ich trocken mit, dass ich mich entschieden habe, keine Therapie bei Herrn Stettbacher zu machen und dass ich ihr Angebot ablehnen würde. Wieder explodierte meine Mutter heftigst und ich wurde plötzlich mit dem Urteil konfrontiert, dass ich für Klienten eine schlimme Gefahr bedeuten würde, weil ich von Therapie nichts verstehen würde und meine Mutter teilte mir mit, dass sie mich auch jetzt offiziell als Therapeut bekämpfen würde und es sehr bereuen würde, dass sie mir zu diesem Beruf verholfen hatte. Nun wusste ich, wo der Feind steckte und dass ich mich als Therapeut ganz alleine durchschlagen musste. Auf der anderen Seite hat diese Erfahrung für mich auch einen grossen Vorteil gehabt: Ich wurde gezwungen, meine eigne Methode als Psychotherapeut zu entwickeln, aber leider im Untergrund. Nun bin ich genau an derselben Stelle gelandet, wie meine Mutter im Krieg. Der Kriegsschatten hatte mich wieder eingeholt. Ich durfte nur heimlich, im Untergrund als Therapeut arbeiten, nie wurde akzeptiert, dass ich offen zeigte, was ich wirklich kann. Ich hätte mein Leben aufs Spiel gesetzt und mich verraten. Das Offenbaren der eigenen Identität würde das Todesurteil bedeuten.
So hatte ich einige Jahre mit meiner Mutter keinen Kontakt mehr und lebte mein eigenes Leben. Das ist zwar einfacher gesagt als getan. Ich heiratete, kaufte ein Haus und genoss das Leben. Auch wenn ich meine Mutter nie sah, war sie dennoch dauernd präsent. In dieser Zeit habe ich zum ersten Mal hautnah verstanden, wie psychische Introjekte sich im praktischen Erwachsenenleben auswirken und sich permanent in das gegenwärtige Leben einmischen. Natürlich ist mein Vater, der mich so Jahrzehnte schlimm verfolgt und gequält hat, nicht verschwunden. Ich hatte oft das Gefühl, dass beide mit ihrer ganzen Aggression und ihrem Hass mir gegenüber ihrer einzigen Aufgabe weiterhin darin sahen, mir mein Leben so schwer wie möglich zu machen. Da harmonierten sie, trotz des gegenseitigen Hasses, sehr gut miteinander. Ich fühlte mich permanent verfolgt. Werden solche Introjekte lebendig, dann hat man das Gefühl, gespalten zu sein. Ich bin mit einem Innenleben konfrontiert, das mich voll in Beschlag nahm. In mir sah es dramatisch und komplett chaotisch aus, gegen aussen aber zeigte ich einen Martin, der als gut situierter Therapeut sein Leben lebte und die angenehmen Seiten des täglichen Lebens genoss.
Leider zerbrach meine Ehe, wir passten als Paar nicht zusammen und wir ließen uns scheiden. Kaum vernahm meine Mutter, dass ich geschieden war, bedrängte sie mich mit der Therapie bei Herrn Stettbacher. Sie sagte eiskalt zu mir, als ich wegen der Scheidung am Boden war: „Du siehst nun, dass Du nur geschieden bist, weil Du meinen Ratschlag nicht angenommen hast, bei Stettbacher die Therapie zu machen. Ich hoffe, dass Du jetzt bereit bist, diese Therapie Dir zuliebe zu machen." Sie nutzte meine Schwäche schamlos aus und in meiner Not sagte ich endlich zu, diese Primärtherapie zu machen. Da ich aber nicht bei Herrn Stettbacher selber die Therapie machen wollte, bot er mir eine Primärtherapie bei einer Schülerin von ihm in München an. So begab ich mich in eine Primärtherapie bei Eva, einer Schülerin von Stettbacher. Erst einige Monate später fand ich aus Zufall heraus, dass die Therapeutin die Sitzungen auf Tonband aufzeichnete und die Bänder immer sofort Herrn Stettbacher zuschickte. Dieser schickte die Bänder meiner Mutter und so konnte meine Mutter meine ganze Therapie überwachen. Ich wurde von ihr dann Monate lang mit den schlimmsten Faxbriefen eingedeckt. Plötzlich wurde mir schlagartig bewusst, dass ich in einem Netzwerk einer tödlichen Sekte gelandet bin. Meine Therapeutin, meine Mutter und Stettbacher gingen zu dritt auf mich los und ich geriet in echte Lebensgefahr. Sie gaben mir bei jeder Gelegenheit zu verstehen, dass ich als Therapeut keine Ahnung habe und ein schlimmer Scharlatan wäre und endlich ihnen gehorchen sollte und mich an die strengen Regeln der Therapiemethode von Stettbacher halten sollte. Mir wurde alles zu viel und ich danke Gott, dass ich auf die Idee kam, nachzuforschen, mit wem ich es da eigentlich zu tun hatte. Ich fand dann sehr schnell heraus, dass Stettbacher nie Psychologie studiert hatte, sondern ein verbrecherischer Hochstapler war. Er war beruflich ein einfacher Lampenverkäufer. Er hatte sich sehr geschickt bei meiner Mutter eingeschlichen. Ich vermute aber, dass meine Mutter sich diesen Verbrecher wie ein Werkzeug selber ausgesucht hat, um ihr Unwesen zu betreiben.
Ich konfrontierte dann in Frankreich meine Mutter mit dem Verbrecher Stettbacher und sofort, wie sie es im Krieg gelernt hatte, passte sie sich mir an. Bei meinem Nazivater, der sie erpresst hatte, hat sie auch ihren Charme aus Überlebensgründen spielen lassen und so ihr Leben gerettet. Plötzlich war Stettbacher ein böser Mensch und ich das arme Opfer. Ich beruhigte mich sofort und meine Mutter hatte es in ihrer genialen Art wieder geschafft, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Heute verstehe ich endlich die Aussage, dass Mafiabosse höchst kriminell und wahnsinnig intelligent sind. Ich konnte mir nie vorstellen, dass diese beiden Fähigkeiten zusammengehören. Lange habe ich immer wieder für mich abgeklärt, ob ich gegenüber meiner Mutter und ihrem abscheulichen Verhalten mir gegenüber paranoid wäre. Aber immer bin ich zum Schluss gekommen, dass diese zierliche Frau mit ihrer höchst brillanten Intelligenz mich tatsächlich umbringen wollte. Meine Mutter beherrschte das Lügen in Reinkultur. Sie hat mich Jahrzehnte in ein undurchschaubares Lügengebäude hinein manipuliert, dagegen konnte ich mich nicht wehren. Nach ihrem Tode überwand ich meine Angst und begann mit dem Schreiben ihrer Biographie. Bald merkte ich, dass ich auch meine Biografie schrieb und erschrak zu Tode, was da alles zum Vorschein kam. Zuerst dachte ich nach der Veröffentlichung meines Buches, dass ich endlich Ruhe hätte, aber ich habe eine Büchse der Pandora geöffnet. Endlich bin ich heute soweit, dass ich mit keinem Geheimnis mehr konfrontiert bin. Meine beiden Eltern können sich glücklich schätzen, dass sie gestorben sind, denn es würde für sie eine schreckliche Tortur sein, mit der Wahrheit durch ihren Sohn konfrontiert zu werden. Leider kann ich ihnen heute nicht mehr mein Wissen zeigen, aber ich habe die Möglichkeit, mein Wissen in jeder Art und Weise zu veröffentlichen. Ich stelle heute fest, dass ich eine ganz neue Methode der Psychotherapie über all die Jahrzehnte entwickelt habe, die sehr erfolgreich ist. Nie habe ich mich getraut, mich zu zeigen. Dass ich heute den Mut gefunden habe und endlich wage, ein Buch über meine Arbeitsweise zu schreiben, hängt davon ab, dass ich zuerst meine eigene Biographie aufs Gründlichste habe durchforsten müssen.
In den letzten fünf Jahren bekam ich die Chance, mit einem begabten und sensiblen Regisseur, Daniel Howald, über mein Leben einen Kinodokufilm über mein Leben zu drehen. Bezeichnenderweise heißt der Film „Who's Afraid of Alice Miller?"
Mit diesem Artikel und weiteren Publikationen möchte ich anderen Menschen, die auch in ihrer Kindheit zutiefst gelitten haben, beistehen. Viele Menschen mussten unter einem lebensbehindernden Schirm der Eltern vegetieren und wurden dadurch gehindert, ihr eigenes Leben zu leben. Wenn ich diesen Menschen ein wenig helfen kann, sich aus der lebensbehindernden Umklammerung zu befreien, dann haben sich meine Schmerzen bei der Auflösung meiner Gefangenschaft wirklich gelohnt.
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