Transgenerationale Vererbung - aus der Sicht und Erleben des Opfers
1. Was ist ein Trauma
Es hat lange gedauert, bis überhaupt eine traumatische Erfahrung von der klassischen Psychiatrie als psychische Krankheit anerkannt wurde. Zwar hatte der Franzose Charcot in der Zusammenarbeit mit Freud herausgefunden, dass die Soldaten des ersten Weltkrieges an einer Posttraumatischen Störung litten, weil sie der Schützengraben traumatisiert hatte.
Unter einem Trauma versteht man ein emotionales Erleben, das man unmöglich integrieren kann. Man ist dem äusseren Ereignis hilflos und ohnmächtig ausgeliefert. Es fehlen einem die psychischen Ressourcen, diese emotionale belastende Erfahrung zu bewältigen.
Im folgenden Referat möchte ich vor allem beschreiben, wie Kriegstraumata an die nächste Generation weitergegeben werden. Man nennt das eine transgenerationale Vererbung.
In der genetischen Forschung wurde in einem interessanten Experiment mit Mäusen die transgenerationale Vererbung entdeckt. So wurde einigen Muttertieren zuerst eine Blume, die besonders anziehend roch, dargeboten. Dann hat man den Mäusen einen elektrischen Schlag gleichzeitig mit dem genussvollen Riechen verabreicht. Darauf vermieden die Mäuse das Riechen, weil sie Angst vor dem Stromschlag hatten. Man nennt diese Erfahrung eine epigenetische Erfahrung. Nun passierte folgendes: Die Jungen dieser Mütter mieden die Blumen genauso wie ihre Mütter, obwohl sie nie dieselbe Erfahrung wie ihre Mütter gemacht hatten. Sie zeigten die gleichen Ängste wie ihre Mütter. Dieses Verhalten der ursprünglichen Mütter zog sich über fünf Generationen hin.
Nun stellt sich die Frage, wie eigentlich die transgenerationale Vererbung sich beim Menschen abspielt.
2. Epigenetik und die wichtige Rolle der Spiegelneuronen bei der transgenerationalen Vererbung
In den letzten Jahren haben die Neurobiologie und die Genforschung gewaltige Fortschritte gemacht. Viele Erkenntnisse, die Jahrhunderte Bestand hatten, wurden plötzlich umgestossen. Dabei spielt das neue Forschungsgebiet der Epigenetik eine grosse Rolle. Man hat herausgefunden, dass das Genom, die DNS, ein wichtiges Organ ist. Neben den Chromosomen stellte man fest, dass die DNS-Eiweissschlange überhaupt nicht benutzt wurde. Die Forscherneugier wurde geweckt und es wurde folgendes entdeckt. Die Chromosomen bleiben erhalten und werden weitervererbt. Gleichzeitig aber spiegeln sich die Chromosomen und einschneidende Umwelterfahrungen werden auf den gespiegelten Chromosomen gespeichert. Dadurch werden Umwelterfahrungen im Genom integriert und werden weitervererbt. Umwelterfahrungen werden heute als epigenetische Erfahrungen bezeichnet. Weiter hat man herausgefunden, dass wir ein riesiges Arsenal von Genen besitzen, die als Kommunikationssystem unseren Organismus steuern und dafür sorgen, dass dieser funktioniert. Da wir aber epigenetische Erfahrungen machen, haben diese einen entscheidenden Einfluss auf die Funktion der Gene. Epigenetische Erfahrungen werden nicht nur in unserem Genom gespeichert, sondern sind in der Lage, sich an die Gene anzukoppeln und beeinflussen die Funktion der Gene. Entweder werden diese Gene abgeschaltet oder aktiviert. In dem Fall haben epigenetische Umwelterfahrungen auf unsere Funktionsweise unseres Organismus einen entscheidenden Einfluss und diese Erfahrungen werden vererbt. So können wir nicht mehr die alte These aufrechterhalten, dass alles umwelt- oder anlagebedingt unseren Organismus beeinflusst.
Ich möchte ein eindrückliches Beispiel für meine vorigen Erläuterungen zitieren:
Wir haben von Geburt an ein Antistressgen, das aber nur durch eine bestimmte epigenetische Erfahrung nach der Geburt öffnet und seiner Funktion gerecht wird. Das Gen funktioniert nur, wenn der Säugling nach der Geburt eine gute Bindung zur Mutter erfährt. Findet diese Bindung nicht statt, dann kann sich das Antistressgen nicht exprimieren (öffnen) und wir entwickeln eine niedrige Stresstoleranz. Diese frühkindliche Erfahrung ist massgeblich verantwortlich für spätere Depressionen.
Nun stellt sich weiterhin die Frage, wie denn elterliche Kriegserfahrungen an die Kinder transgenerational vererbt werden.
Vor etwa dreissig Jahren hat der Neurophysiologe Giacomo Rizzalotti mit seinem Forschungsteam in Parma die Spiegelneuronen eher zufällig entdeckt. Sein Team wollte erforschen, mit welchem motorischen Areal im Neocortex Affen einen Gegenstand greifen und welche Handlungen für diese Tätigkeit gebraucht werden.
Einem Affen, nennen wir ihn Max, wurde ein dünner Draht mit dem motorischen Areal im Neokortex verbunden und an einen Computer angeschlossen. Der Versuchsleiter bereitete den Versuch vor, indem er eine Banane in die Hand nahm und diese auf den Tisch legte. Der Affe beobachtete den Versuchsleiter aufmerksam. Als der Versuchsleiter die Handlung vornahm, wurde die Forschergruppe durch ein regelrechtes Gewitter aus dem Computer erschreckt. Zuerst glaubten alle, dass der Computer defekt wäre. Aber dem war nicht so. Einige Male wiederholten die Forscher diesen Prozess und jedes Mal reagierte der Computer auf dieselbe Art. Da merkten sie, dass sie eine wichtige Entdeckung gemacht haben. Das Gehirn des Affen besass im motorischen Cortex spezielle Neuronen, die bei der Beobachtung einer Handlung reagierten. Die Forscher um Rizzalotti nannten diese Neuronen Spiegelneuronen, weil diese Neuronen intuitiv bei der Beobachtung einer Handlung diese imitierten. Bei der Imitation handelte es sich um eine Simulation. Denn der Affe beobachtete nur, aber zeigte sonst keine Reaktion.
Die Forscher blieben dran an ihrer Entdeckung und fanden heraus, dass der Affe nicht nur eine beobachtete Handlung simulierte, sondern auch die Absicht des anderen voraussehen konnte und auch die Ziele erkennen konnte. Mit der Zeit machte man mit dem Menschen spezifische Experimente mit bildgebenden Instrumenten und stellte fest, dass wir auch Spiegelneuronen haben. Diese sind im motorischen Kortex gelagert und mit dem visuellen und auditiven Areal verbunden. So entsteht ein Spiegelneuronensystem im Gehirn. Dieses System speichert alle Handlungen, die wir von Geburt an beobachten. Mit der Zeit verinnerlichen wir diese beobachteten Handlungen und speichern diese. Diese inneren Handlungsmuster beinhalten sowohl die Handlung als auch die Personen, die wir bei diesen Handlungen beobachten. So entwickeln wir die Fähigkeit, zu fühlen, was der andere vorhat, was seine Absicht ist. Diese Prozesse laufen intuitiv ab. Für unser Thema der transgenerationalen Vererbung sind diese oben beschriebenen wissenschaftlichen Ergebnisse von unschätzbarem Wert. Es ist eine körperliche Erfahrung, die uns mit anderen Menschen verbindet. Es wird nicht nur die real beobachtbare Handlung erspürt, sondern auch die innere Gefühlshandlung. Denn als Kind beobachten wir von Geburt an das Gesicht der primären Bezugsperson ganz genau. Mit 9 Monaten beginnt bei einem Kleinkind die intersubjektive Phase. Das Kleinkind orientiert sich am Gesicht der Mutter, ob es Angst haben muss oder nicht. Das Gesicht der Mutter spricht Bände. Die intuitiv erfahrenen Handlungen werden an die Insula gesendet und dort als Gefühl gespeichert. Das Gesicht wird beobachtet wie die Handlungen. Das Kind fühlt, was die Mutter fühlt. Lange identifiziert sich das Kind mit diesen Gefühlen der Mutter. Dieser Prozess wird auch als Gefühlsansteckung bezeichnet. Erst viel später werden wir fähig, kognitiv diese Gefühlsansteckung aufzulösen. Wir können uns einerseits vom anderen abgrenzen, andererseits haben wir ein Mitgefühl mit den Gefühlen des anderen. Diesen Prozess bezeichnen wir als Empathie. Empathie ist im positiven Sinne die Grundlage des sozialen Verhaltens, andererseits kann aber auch Empathie dazu führen, dass wir Opfer einer transgenerationalen Vererbung werden. Im Folgenden werde ich einige Beispiele meiner Erfahrung mit der transgenerationalen Vererbung beschreiben.
3. Meine Erfahrung mit der transgenerationalen Vererbung meiner Kriegstraumatisierten Eltern.
Zuerst möchte ich die Seite meiner Eltern beschreiben. Meine Mutter stammte aus einem jüdisch-orthodoxen Elternhaus. Schon 1939, kurz nach Kriegsbeginn, wurde ihre Familie im ersten Ghetto in Polen, in Piotrkov, eine Kleinstadt südlich von Lodz, eingesperrt. Meine Mutter war damals 16 Jahre alt und hatte schon das Abitur abgeschlossen. Sie nahm mit der Untergrundorganisation im Ghetto Kontakt auf und flüchtete mit falschen Papieren nach Warschau. Dort unterrichtete sie polnische Schüler an einem Gymnasium und beschaffte sich einen neuen Pass. Sie gab ihre jüdische Identität auf und hiess von da an Alice Rostovska. Diesen Namen behielt sie bis zu ihrem Tode. 1942 erfuhr sie, dass das Getto aufgelöst würde und dass alle Insassen nach Treblinka ins Gas geschickt würden. Sofort beschaffte sie auch für ihre Schwester und Mutter falsche Papiere und rettete die beiden im letzten Moment vor dem Tode. Den Vater musste sie im Ghetto zurücklassen, weil er als orthodoxer Jude kein Polnisch sprach und in seinem Aufzug keine Überlebenschance hatte. Auch war er krank und starb bald nach dem Wegzug seiner Familie noch im Ghetto. Ihre Mutter versteckte Alice auf dem Lande und ihre Schwester wurde in Warschau in einem Kloster versteckt. Die Bedingung war nun für meine Tante Irena, dass auch sie das Judentum nach aussen hin ablegen musste und den katholischen Glauben annehmen musste. Meine Mutter schloss sich einer Untergrundgruppe an und lebte unter grössten Todesängsten im aarischen Teil von Warschau. Eines Tages wurde sie aber von einem polnischen Erpresser, der mit der Gestapo kooperierte, erwischt. Sie gab ihm zwar den einzigen wertvollen Ring, den sie hatte, aber gleichzeitig verführte sie den Erpresser und wurde seine Geliebte. In einer schwachen Minute verriet sich meine Mutter: Sie sagte zu mir: »Der Erpresser hatte denselben Namen wie Dein Vater.» Ich war so schockiert, dass ich gar nicht wagte, genauer nachzufragen.
Nun zu mir: Meine späteren Eltern waren ein konfliktreiches Paar. Einerseits mein Vater, ein überzeugter Nazi und meine Mutter eine Überlebende des Holocausts. Ich wurde in eine explosive Elternschaft hineingeboren. Von Anfang an wurde ich von meinem Vater gequält, weil ein Nazi es nicht aushalten konnte, einen jüdischen Sohn gezeugt zu haben. Meine Mutter war ausserstande, mich zu beschützen.
Wie in vielen Familien, wo ein Teil oder beide den Holocaust überlebt haben, wurde standhaft geschwiegen. Ich wurde mein ganzes Leben permanent von meinen Eltern, was ihre Vergangenheit anbelangte, angelogen. Auch kann ich heute mit Sicherheit feststellen, dass für sie der Krieg nicht beendet war, sondern im Gegenteil. Erst später, im fortgeschrittenen Alter erkannte ich mit Schaudern und geschockt, dass ich Jahrzehnte lang der verfolgte und erpresste Jude von Warschau im zweiten Weltkrieg wurde. In der Schule hatte ich grosse Schwierigkeiten und meine Eltern beschlossen, mich in ein Internat zu schicken. Zu ihrer Überraschung entschied ich mich, in eine katholische Klosterschule zu gehen. Ich schrieb bald meiner Mutter einen langen Brief, in dem ich ihr offenbarte, dass ich endlich in Freiheit leben kann und dem Gefängnis entfliehen konnte. Innerlich litt ich in diesem Internat fürchterlich. Über dreieinhalb Jahre, bis zu meinem Abitur, geriet ich in eine permanente Panik, dass ich öffentlich ein christliches, katholisches Gebet beten müsste. Ich wusste nicht, warum ich solche Ängste hatte. Erst als ich bei den Dreharbeiten in Polen den Dokumentarfilm über meine Tante Irena, der Schwester meiner Mutter sah, wurde mir klar, was ich im Internat erlebt habe. Ich habe meine Tante in meinem Leben vielleicht zweimal gesehen, aber beim Ansehen des Filmes, stellte ich mit Erstaunen fest, dass sie dieselben Gefühle im Kloster erlebte wie ich im Internat. Ich wurde auch von meiner Mutter über das Judentum nicht aufgeklärt und wusste schemenhaft, dass ich Jude bin. Ich erlebte dieselben ängstlichen Gefühle wie meine Tante und meine Mutter im Krieg. Ich bekam im Internat immer mehr panische Ängste, mich öffentlich zu zeigen, weil ich Angst hatte, umgebracht zu werden oder zumindest mich in Lebensgefahr zu bringen. Ich machte auch im Unterricht nicht mehr mit, ich schwieg immer, auch wenn ich die Antworten gewusst hätte.
Der Jude von Warschau: Auch wenn ich nie den zweiten Weltkrieg erlebt habe, bin ich trotzdem mitten im aarischen Teil von Warschau als verfolgter Jude in meiner Familie aufgewachsen. Da meine beiden Eltern Polen waren, wäre Polnisch meine eigentliche Muttersprache gewesen. Als ich als Kind begann, sprechen zu lernen, beabsichtigte meine Mutter, mir Polnisch beizubringen. So sprach ich zuerst mit ihr Polnisch. Mein Vater unterband aber dieses Ansinnen meiner Mutter. So musste ich Deutsch sprechen und später lernte ich auf der Strasse den Dialekt der Schweizer. In meiner Gegenwart sprachen meine Eltern immer Polnisch und ich verstand überhaupt nichts. Ich fühlte mich ausgeschlossen. Immer sagten sie mir: «Man hat uns geraten, dass Du nur Deutsch sprechen sollst, weil zwei Sprachen Dich verwirren würden. Und es ist uns wichtig, dass Du ein echter Schweizer wirst.» Ich glaubte ihnen, aber ich hatte dabei immer ein komisches Gefühl. Als ich vor einigen Jahren das Buch von Saul Friedländer, «Die Juden und das Dritte Reich» las, verstand ich augenblicklich, wie ich betrogen und völlig falsch informiert wurde. Dort las ich, dass die orthodoxen Juden nur Jiddisch sprachen und kein Polnisch. Jiddisch tönt ähnlich wie Schweizerdeutsch. Auch wurde ich systematisch in meiner Familie permanent ausgeschlossen. Mein Vater schlug, quälte mich und vor allem erniedrigte er mich dauernd. So behandelten die Nazis die Juden bis zur Endlösung. Erst spät, mit fast 70 Jahren verstand ich die ganze Geschichte, die sich hinter dem Verhalten meiner Eltern verbarg. Nicht nur im Internat, sondern auch zu Hause musste ich mich verstecken und alles unternehmen, dass ich nie auffiel. Ich hatte grosse Ängste, Fragen zu stellen. Jahre lang fühlte ich mich unsicher und verängstigt, nach aussen spielte ich eine Rolle. Das Gefühl, in der eigenen Familie ausgeschlossen und abgelehnt zu werden, löst eine unsägliche Einsamkeit aus. Ich fragte nie nach aus Angst, ich war zu Hause still und liess alles über mich geschehen. Ich spürte gegenüber meinen Eltern keinen Hass, aber ich wurde mit einem unsäglichen Hass dauernd konfrontiert, der mir vor allem von meinem Vater entgegenschlug.
Er war der überlegene Nazi, ich das unwerte Leben. Ich wurde wie die Juden im Krieg als Ungeziefer behandelt. Wenn mein Vater mich schlug, wenn er mich beim Essen am Tisch demütigte oder sich über mich lustig machte, schaute meine Mutter nur zu. Mit weit aufgerissenen, ängstlichen Augen sah sie dem Schauspiel zu und verteidigte mich nie. Weil sie im Krieg meinen Vater aus Überlebensgründen verführen musste, musste sie mit ihm kooperieren und Juden verraten. Dieses Szenario wiederholte sich in unserer Familie. Das Internat war für mich nicht nur eine Rettung, sondern auch eine Angst erfüllende Flucht von zu Hause. Denn in der Klosterschule erlebte ich die Verleugnung des Judentums als ständige Belastung. Mir kommt es heute wie ein Wunder vor, dass ich überhaupt das Abitur mit grösster Mühe geschafft hatte. Am schlimmsten erlebte ich die fürchterliche Einsamkeit, in die ich geriet. Es gab keinen Menschen, den ich ansprechen konnte und niemand kam mir zu Hilfe.
Dass ich heute offen darüber öffentlich sprechen kann, hat Jahre gedauert. Therapien haben mir nicht geholfen, weil die Therapeuten zwar alles wussten, aber vor meiner Mutter grosse existenzielle Angst hatten. Meine Eltern hatten kein Interesse daran, dass ich ihre Kriegserfahrungen durchschauen würde und sie für ihr Verhalten zur Verantwortung ziehen würde. Auch noch lange nach ihrem Tode geisterten sie als verinnerlichte Introjekte in mir herum und ich fühlte mich immer wieder wie als Kind unterdrückt und unsicher. Erst als ich meine Geschichte dank des Buches über meine Mutter und des Filmes genau erforschen konnte und in ihrer Gesamtheit verstand, fühlte ich mich sicher.
Vor den Dreharbeiten in Polen strebte ich drei Ziele an: Ich möchte die Kriegserfahrungen meiner Eltern wieder an den Ort zurückbringen, woher sie kamen. Sie haben mit mir nichts zu tun.
Weiter war es für mich ein grosses Anliegen, dass meine Eltern für mich normale Menschen wurden und ich zu ihnen eine Beziehung aufbauen konnte. Sie sollten keine Marsmenschen mehr für mich sein, zu denen ich keine Beziehung hatte. Erst die genaue Erkenntnis meiner Geschichte erlaubte es mir, als eigenständiger Martin mit meinen Eltern auf Augenhöhe in Beziehung zu treten, auch wenn sie schon lange tot waren. Das war ein erhebendes Gefühl. Den verfolgten Juden aus Warschau bin ich zwar losgeworden, aber zum eigentlichen Judentum habe ich keine Beziehung. Heute ist es in meinem Alter zu spät, eine jüdische Identität zu entwickeln.
Zum Schluss wollte ich symbolisch meine Eltern dort begraben, woher sie kamen, nämlich in Polen. Ich kam also nach den Dreharbeiten als schweizerischer Migrant nach Hause zurück. Zu Polen habe ich keine Beziehung, weil man mir dies auch verunmöglicht hatte. Ich habe mit dem Ende der Dreharbeiten meine transgenerationale Vererbung aufgelöst und das ist der grösste Erfolg in meinem Leben. Meine Eltern sind schon einige Zeit gestorben und endlich auch für mein Erleben weit weg von mir und ihre Macht ist jetzt endgültig gebrochen.
Ich werde oft gefragt, ob ich meinen Eltern nun vergeben habe. Das kann ich nicht, wurde ich um viele Möglichkeiten in meinem Leben betrogen und behindert. Aber es ist ein erhebendes Gefühl, den Rest meines Lebens in Freiheit und Selbstbestimmung zu leben.
Zum Schluss des Referates möchte ich noch die psychotherapeutischen Implikationen beschreiben, die helfen, Menschen mit einer transgenerationalen Vererbung aus der Umklammerung ihrer Eltern zu befreien. Als Psychotherapeut konnte ich dank meiner Selbsterfahrung sehr viel profitieren.
4. Therapeutische Ansätze
Dass oft Kinder Opfer einer Transgenerationalen Vererbung durch Eltern werden, die den Krieg überlebt haben, ist eine traumatische Erfahrung. Meistens sind sich die Eltern nicht bewusst, dass sie ihre Kriegserfahrungen auf das Kind übertragen. Dabei wird das Kind missbraucht, die abgespaltenen Traumata der Eltern zu übernehmen. Sie werden einerseits mit den Erlebnissen der Eltern belastet, aber sie bewahren die Eltern auch davor, dass diese ihre eigenen Erfahrungen nicht mehr spüren. Ganz funktioniert das nicht. Ich habe es selbst erlebt. Jedoch bemüht sich das Kind mit allen zur Verfügung stehenden Kräften, dem Wunsch der Eltern, ihr schreckliches Erlebnis zu vergessen. Gelingt das nicht, wird der Druck der Eltern immer stärker. Das Kind spürt ganz genau, dass die Eltern eine grosse Angst haben, dass die Übertragung auf das Kind nicht mehr funktionieren könnte, und das Kind wird einer gewalttätigen Kontrolle unterworfen. Ohne dass es die Eltern merken, identifizieren sie sich dabei mit dem Täter.
Als Therapeut habe ich die Aufgabe, die Klienten über den Mechanismus der transgenerationalen Vererbung aufzuklären. Dann ist es vor allem wichtig, dass ich mit den Klientinnen und Klienten so genau wie möglich die Geschichte ihrer Eltern rekonstruieren kann. Oft sind die Eltern schon gestorben und haben meistens ihre Erfahrungen nicht erzählt, sondern geschwiegen. Das war ihre einzige Möglichkeit, ihre schrecklichen Erlebnisse auf ihre Art zu «verarbeiten». Wie ich aber oben beschrieben habe, haben die Kinder die genetische Anlage zur Empathie. Oft schweigen die Eltern, aber zwingen die Kinder, ihre abgespaltenen Erfahrungen als Identität zu übernehmen. Diese Form der Traumatherapie ist für mich die einzige Chance, Klientinnen und Klienten aus dem Schraubstock der transgenerationalen Vererbung zu befreien.
5. Schlussbemerkungen
Ich bin der Überzeugung, dass es auch einem Opfer nicht erlaubt ist, sich mit dem Täter zu identifizieren. Nur so kann ich die Vererbung unterbrechen. Wenn ich mich in der Therapie mit meiner Opfererfahrung auseinandersetze, besteht nicht mehr die Versuchung, andere Menschen zu quälen und es ist nicht mehr angebracht, Gewalt anzuwenden. Denn man weiss dann ganz genau, wie man den anderen verletzt, weil man sich seinen eigenen Verletzungen gegenüber konfrontiert hat. In psychoökonomischen Experimenten hat man eindeutig herausgefunden, dass Menschen eigentlich zur Fairness neigen. Diese Erkenntnisse kann man auch hier anwenden. Wenn ich meine Verletzungen verarbeitet habe, muss ich sie nicht mehr weitergeben. Die Hürde zur Gewalttätigkeit ist zu hoch.
Das Ziel der Therapie ist es, die traumatischen Übertragungen der Eltern ihnen wieder zurückzugeben und eigenständig sein eigenes Wahres Selbst zu leben.
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