Traumatische Verletzungen – eine grosse Herausforderung für die Psychotherapie

Motto: Es gibt keine Gegenwart und keine Zukunft. Nur die Vergangenheit, die sich ständig wiederholt 


1. Einleitung

Immer mehr werden wir in unserer Arbeit als Therapeuten/innen mit Patientinnen und Patienten mit verdrängten Traumata konfrontiert. Im folgenden Vortrag möchte ich einen Weg der Traumatherapie aufzeigen, wo das Wissen der Neurobiologie und der frühen Entwicklungspsychologie einen wichtigen Einfluss haben.

Ich werde mich im folgenden Vortrag vor allem auf die Bücher Von Peter A. Livine «Trauma und Gedächtnis, Wie wir traumatische Erfahrungen verstehen und verarbeiten», Kösel, 2016 und Joachim Bauer, «Das empathische Gen», Herder 2021, beziehen.

Es ist unbedingt notwendig, dass wir dieses Wissen immer mehr verbreiten, denn traumatische Erfahrungen bringen Kinder und Erwachsene in vielfältiger Art und Weise zu unsäglichem Leiden. Oft bleiben diese Menschen in ihrer traumatischen Erfahrung ohne Therapie stecken und leiden unter den schlimmsten psychischen Erkrankungen. Wir werden in den Therapien am Anfang mit Posttraumatischen Syndromen konfrontiert und müssen uns zuerst regelrecht an das erlebte Trauma heranarbeiten.

Im Vortrag werde ich zuerst die verheerende körperliche, und seelische Zerstörung beschreiben. Dann werde ich aufzeigen, wie die Erinnerungen an das Trauma in den Untergrund des Hirnstammes verdrängt werden und uns selbst nicht mehr zugänglich sind. Zum Schluss werde ich einen Weg aufzeigen, wie einem Menschen geholfen werden kann, sein Trauma zu verarbeiten und ein eigenes Leben zu führen.

Das Ziel der therapeutischen Arbeit ist es, dass traumatisierte Menschen mit Hilfe der Therapie in der Lage sind, sollte das Trauma unerwarteter Weise wieder auftauchen, die Gefühlsüberschwemmung selbst regulieren zu können.


2. Ein erlebtes Trauma zerstört Seele Körper und Geist schwer.

Schon vor 100 Jahren machte der Neurologe Jean-Martin Charcot die seltsamen Beobachtungen, dass seine Patienten in der Hysterie Verhaltensmuster zeigten, auf die er sich mit seinen Mitarbeitern keinen Reim machen konnte. Nach und nach erfasste Charcot, dass Lähmungserscheinungen, Zuckungen, Ohnmachten, das unvermittelte Zusammensacken, das wahnsinnige Gelächter und die dramatischen Tränenausbrüche mit dem bisherigen Wissen zur Krankheit der Hysterie nicht zusammenpassten.

Charcot kam zum Schluss, dass diese merkwürdigen Bewegungen die physischen und psychischen Hinterlassenschaften von erlebten Traumata waren. Sein Schüler Pierre Janet verfasste in der Folge als erster ein Buch (L'automatisme psychologique), indem er schon damals die posttraumatischen Belastungsstörung beschrieb. Janet setzte das Thema Erinnerung beim Umgang mit Traumata an die erste und zentralste Stelle:

Aus einem Ereignis wird nur dann ein Trauma, wenn überwältigende Emotionen eine angemessene Verarbeitung der Erinnerung stören.

Nach einem erlebten Trauma reagieren Menschen mit panischer Angst, obwohl die gegenwärtige Situation solche Reaktionen nicht rechtfertigen. Ein unverarbeitetes Trauma meldet sich immer wieder durch inadäquate Verhaltensweisen, die die traumatischen Erinnerungen repräsentieren, zurück.

Traumata werden nicht als normale Erzählungen aus der Vergangenheit gespeichert, sondern als körperliche Empfindungen, die wir wie eine unmittelbare Bedrohung für unser gegenwärtiges Leben erfahren.

Der Unterschied zwischen gewöhnlichen Erinnerungen (eine alltägliche Geschichte) und traumatischen Erinnerungen (wiederkehrende Körperempfindungen und Bewegungen, die von heftigen Emotionen der Angst, Scham, Wut und Resignation begleitet werden) schädigen die Hirnareale, die für die Erzeugung von autobiographischen Erinnerungen zuständig sind.

Das revolutionäre Fazit von Janet, das heute noch gültig ist lautet: Traumatisierte bleiben in der Vergangenheit stecken und erleben den Horror des Traumas immer wieder. Den Traumatisierten ist es nicht möglich, ihre schlimme Erfahrung in die Vergangenheit zu verweisen, sondern sie sind vollkommen damit beschäftigt, ihre gesamte Energie dazu zu verwenden, die bedrohlichen Emotionen permanent in Schach zu halten. So war es ihnen nicht möglich, ihre Aufmerksamkeit auf das, was die Gegenwart verlangt, zu richten.

Ein Erleben ist dann traumatisch, wenn der menschliche Organismus nicht über die nötigen Ressourcen verfügt, das Erleben zu integrieren, sondern überwältigt wird und mit Hilflosigkeit und Lähmung reagiert

Wenn man absolut nichts tun kann, um etwas am Ausgang von Ereignissen zu ändern, bricht das ganze System zusammen.

Auch Sigmund Freud arbeitete zu der Zeit mit Charcot zusammen und am Anfang seines Schaffens verfolgte er auch die Erforschung der Traumatheorie. Er meinte, dass sich Traumatisierte Menschen nicht mehr an ihre traumatischen Erfahrungen erinnern könnten, diese aber in ihrem gegenwärtigen Verhalten ausagieren würden. Durch das Ausagieren wird das Trauma immer wiederholt. Freud meinte, dass das Ausagieren eine Form des Erinnerns des Traumas wäre.

Leider hat Freud diesen Weg der Traumaforschung verlassen und sich der Triebthorie zugewandt (Ödipuskomplex)

Peter Livine ist der Meinung, dass der Weg zur Traumalösung einerseits die Bewältigung von Lähmung und Aufruhr körperlicher Art ist und andererseits die Auseinandersetzung mit der erfahrenen Hilflosigkeit unbedingt notwendig ist. Neben der körperlichen Aktivierung ist es wichtig, über das Erlebte zu berichten. Durch diese verbale Massnahme entsteht ein Narrativ, eine erzählte Geschichte, die uns selbst hilft, das Geschehene zu verstehen.

Ich werde später in meinem Vortrag näher diesen Weg der Lösung traumatischer Erfahrungen beschreiben.

Nimmt man heute eine traumatische Verletzung ernst, dann muss man anerkennen, dass der gesamte Organismus – Körper, Geist und Seele – sozusagen im Trauma stecken bleibt und sich dieser weiterhin so verhält, als bestünde eindeutig eine gegenwärtige Gefahr.


3. Der Zusammenhang zwischen Gedächtnis und Erinnerung

Seit einigen Jahren wissen wir, dass wir unsere Erinnerungen nicht nur an einem Ort im Gehirn speichern, sondern dass es sich um ein komplexes System handelt.

Wir unterscheiden zwischen dem expliziten und impliziten Gedächtnis. Im expliziten Gedächtnis speichern wir Erinnerungen, auf die wir mehr oder weniger autonom und bewusst zugreifen können. Aber auch da gehen wir selektiv vor. Der Psychoanalytiker Alfred Adler meinte zu diesem Vorgehen folgendes: « Es gibt keine zufälligen Erinnerungen: Aus einer nicht zu berechnenden Anzahl von Eindrücken, die auf den Menschen einwirken, wählt er für seine Erinnerungen nur jene aus, von denen er, wenn auch dunkel, fühlt, dass sie eine Beziehung zu seiner Situation haben.»

Seit einiger Zeit hat man begonnen zu erforschen, ob Erinnerungen unverändert den Tatsachen entsprechen. Nun hat man herausgefunden, dass Erinnerungen vielmehr flüchtiger sind und verändern unentwegt Gestalt und Bedeutung. Die Erinnerung ist kein umrissenes Phänomen, kein festes Bauwerk, das in einem steinernen Fundament verankert wurde und dort dauerhaft stehen wird. Erinnerungen sind auf Gedeih und Verderb jeder Interpretation und Konfabulation ausgeliefert.

Erinnern ist ein ständiges Rekonstruieren. Der Rekonstruktionsvorgang ist ein Prozess, bei dem fortwährend Informationen ausgewählt, gelöscht, umsortiert und aktualisiert werden. Dies geschieht als normaler Anpassungsprozess, um Leben und Überleben zu ermöglichen. Unsere aktuelle emotionale Befindlichkeit ist der Hauptfaktor, der bestimmt, woran wir uns erinnern und was uns an einem bestimmten Ereignis im Gedächtnis haften bleibt. Unsere Gefühle, unsere Empfindungen und körperliches Erleben sind somit der hauptsächliche Trigger, die unsere Erinnerungen aktivieren.

Bevor wir zur speziellen Funktionsweise von traumatischen Erinnerungen kommen, möchte ich die obige Graphik näher beschreiben.

Unser Gedächtnissystem wird in zwei verschiedene Hauptbereiche unterteilt: In ein explizites Gedächtnis und ein Implizites Gedächtnis.

Das explizite Gedächtnis wird unterteilt in ein deklaratives Gedächtnis und ein episodisches Gedächtnis.

Im deklarativen Gedächtnis werden vorwiegend Fakten gespeichert. Sie sind nicht emotional. Im episodischen Gedächtnis werden unsere Erlebnisse gespeichert. Es geht um eine Geschichte, die wir erlebt haben. Diese Geschichten sind emotional gefärbt und spannender als die Fakten. Aber ohne neutrales Wissen funktionieren wir auch nicht. Die Geschichten des Episodischen Gedächtnisses unterliegen den oben beschriebenen Wandlungen. So passiert es häufig, dass wir Erzählungen erfinden und tatsächlich glauben, dass sie stattgefunden haben. Es bleibt uns nur die nüchterne Erkenntnis, dass wir unsere Geschichten nach Lust und Laune im Gedächtnis speichern und dann wiedergeben. Unser episodisches Gedächtnis ist keine Videoaufnahme.

Fazit: Erinnerungen bilden das Fundament unserer Identität. Unter anderem an ihnen machen wir unser Menschsein fest. Erinnerungen sind ein Magnetkompass, der uns in unvertrauten Situationen Orientierung bietet. Sie helfen uns, einen Kontext für neu auftauchende Erfahrungen zu liefern. Dieses Fundament ermöglicht es uns, die Sicherung einer Zukunft zu bewerkstelligen, auch wenn sie von unserer Vorgeschichte beeinflusst, aber nicht über Gebühr von ihr eingeengt wird. Durch Erinnerung entsteht Kontinuität. Wir stellen durch Erinnerung einen roten Faden her, indem wir eine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit herstellen. So können wir aus unserer Geschichte lernen und die Zukunft für unser Leben vorteilhafter gestalten. Diese Erinnerungen sind durch Emotionen eingefärbt (negativ und positiv), aber sie sind dafür verantwortlich, Lernprozesse anzustossen und zu fördern.

Episodische Erinnerungen sind oft von Gefühlen aller Schattierungen gefärbt und strotzen vor Vitalität, ob im Positiven oder Negativen. Sie sind inhaltsreiche verschlüsselte Konzentrate unserer persönlichen Lebenserfahrungen. Dank dieser Eigenschaft bilden die episodischen Gedächtnisinhalte eine Schnittstelle zwischen der rationalen und impliziten, emotionalen Dimension. Dank der Fähigkeit, episodische Geschichten zu bilden, ist es überhaupt möglich, zusammenhängende Narrative zu bilden. Die Verknüpfung und Verarbeitung blanker Emotionen mit nuancierten Gefühlen, den Fakten und der Kommunikation mit Menschen unserer Wahl sind das Ziel einer Therapie mit traumatisierten Menschen.

Die zweite Gedächtnisformation nennt man Implizites Gedächtnis. Dieser Gedächtnisbereich ist unbewusst und uns kognitiv nicht zugänglich. Einerseits ist es das Emotionale Gedächtnis und andererseits das Prozedurale Gedächtnis. Implizite Erinnerungen unterscheiden sich radikal sowohl von «kalten», deklarativen als auch den «warmen» episodischen Erinnerungen: Sie sind «heiss» und ziehen uns unwiderstehlich mit.

Implizite Erinnerungen entziehen sich unserem Bewusstsein. Sie lassen sich nicht gezielt abrufen, vielmehr steigen sie in einem Konglomerat von Körperempfindungen, Emotionen und Verhaltensweisen überfallartig auf. Sie organisieren sich um Emotionen und stossen Körperempfindungen an, die man «Aktionsmuster» nennt. Es sind primäre anlagebedingte Emotionen wie Überraschung, Angst, Panik, Aggression, Ekel, Traurigkeit und Freude. Diese Emotionen haben eine bewertende und eine Handlung auslösende Funktion. Sie sind eng mit den Prozeduralen Emotionen verknüpft. Emotionen liefern überlebensrelevante Informationen als auch solche sozialer Natur.Der Verstand wäre da viel zu langsam (Vergleiche dazu Joseph Le Doux, 1996). Deshalb ist das Emotionale Gedächtnis für unser persönliches Überleben unserer Spezies zentral wichtig.

Fazit: Emotionale Erinnerungen werden im Allgemeinen durch Merkmale einer gegenwärtigen Situation (Somatische Marker, Antonio Damasio) ausgelöst. In der Regel haben diese Emotionen den Sinn, in der Vergangenheit im Prozeduralen Gedächtnis Erinnerungen zu speichern, so dass sich feste Aktionsmuster bilden, die das Überleben sichern.

Im Fall eines Traumas findet dieser Prozess nicht statt. Durch das Trauma wird ein Gewirr von unaufgelöster Angst, Entkörperlichung und Verwirrung gebildet.

Positiv haben Emotionen auch einen sozialen Sinn. Einerseits signalisieren sie anderen, was wir empfinden und brauchen, andererseits sind sie ein Signal für uns selbst, indem wir wahrnehmen können, was wir empfinden und brauchen. Diese Emotionen sind die Grundlage der Empathie. Durch Intersubjektivität treten wir mit anderen Menschen in Beziehung, indem wir im jeweils anderen Resonanz erzielen.

Emotionen sind eine prägnante Form des Austauschs in Beziehungen jeder Art, ein Urwissen. Durch die zentrale Rolle sozialer Emotionen erleichtern wir die Beziehung zu anderen und zu uns selbst.

Peter Livine beschreibt das Wesen der Prozeduralen Erinnerungen mit folgendem einprägenden Zitat:

Was der Geist vergessen hat, das hat der Körper nicht vergessen….dankenswerterweise (Sigmund Freud)

Prozedurale Erinnerungen sind Impulse, die Bewegungen und Empfindungen im Körperinneren, die uns beim Wie unseres Handelns, unserer Fähigkeiten und bei Anziehung und Abstossung leiten. Die Prozeduralen Erinnerungen lassen sich in drei grobe Kategorien einteilen:

  • a.Erlernte motorische Abläufe: Zum Beispiel Fahrradfahren
  • b.Fest verankerte Notfallmassnahmen, die angesichts einer Bedrohung elementare Überlebensinstinkte in Aktion treten. Geraten diese Notfallprogramme aus dem System, spielt dieser Zusammenbruch bei der Entstehung traumatischer Erinnerungen eine entscheidende Rolle.
  • c.Eine dritte Kategorie prozeduraler Erinnerungen produzieren organismische Reaktionstendenzen in Richtung Annäherung oder Vermeidung, Anziehung oder Abstossung. Diese Reaktionsmuster beschreiben wir auch als die wichtigsten Motivationssysteme: Annäherung und Vermeidung. Beim Vermeidungsmodus verspannen wir uns körperlich, ziehen uns zurück, beim Annäherungsmodus haben wir das Bedürfnis nach Expansion, nach-aussen-Gehen und aktive Hinwendung zur Umgebung.

Diese Bewegungsmuster in Richtung Annäherung oder Vermeidung sind die elementarsten und primitivsten Steuerruder in unserem Leben. Sie sind ein Kompass, der uns durchs Leben die Richtung weist.

Die Prozeduralen Erinnerungen sind die essenziellste Grundlage unserer körperlichen Empfindungen sowie vieler unserer Gefühle, Gedanken und Überzeugungen. Wichtig ist zu beachten, was die Traumatherapie anbelangt, dass die instinktiven Überlebensreaktionen von allen Untersystemen des Gedächtnisses die tiefsten und unbezwinglichen sind und dass diese bei Bedrohung und Stress im Allgemeinen die anderen impliziten und expliziten Untertypen von Erinnerungen aufheben.

Fazit: Tatsache ist, dass hartnäckige, fehlangepasste (maladaptive) prozedurale und emotionale Erinnerungen den Kernmechanismus abgeben, der allen Traumata sowie vielen sozialen und Beziehungsproblematiken zugrunde liegen.


4. Die Zerstörung des Selbst – Aus psychologischer und neurobiologischer Perspektive.

Mir ist bei der ganzen Traumatheorie und der Traumatherapie vor allem der Aspekt am wichtigsten, dass durch das Erleben eines Traumas von einem Moment auf den anderen das Selbst zerstört wird. Das Opfer weiss plötzlich nicht mehr, wer es ist. Mein Selbst, meine Identität als Person existiert nicht mehr. Mein Selbst, ich als Person, repräsentiere die Schnittstelle zwischen biologischer Innen- und sozialer Aussenwelt.

Jedes Selbst hat ein Selbstverständnis, es hat ein eigenes Innenleben und ist fähig, sein inneres Erleben zu reflektieren. Dank meines Selbst habe ich einen Zugang zur Aussen – und Innenwelt.

  • a.Das Selbst aus psychologischer Sicht:
  • Heinz Kohut, der Begründer der Selbstpsychologie, hat zur Theorie des Selbst einen grossen Beitrag geleistet, Er meinte, dass das Kind noch nicht mit einem kohärenten Selbst auf die Welt kommt. Es befindet sich in einem fraktionierten Zustand. Durch die wertschätzende Wahrnehmung der Mutter festigt und entwickelt sich ein eigenes Selbst. Wird das Kind in seiner Selbstwahrnehmung vernachlässigt bildet es eine narzisstische Persönlichkeitsstörung aus. Die oben beschriebenen Eigenschaften eines Selbst fehlen und bei einer Traumatisierung passiert es, dass das Opfer wieder in den kleinkindlichen, fraktionierten Zustand seines Selbst zurückfällt.
  • Donald Winnicott hat ebenso eine wichtige Selbstpsychologie entwickelt. Das Kind kommt mit einem Wahren Selbst auf die Welt. Das Wahre Selbst beinhaltet die angeborenen Fähigkeiten, die nach Entwicklung streben. Werden die Anlagen durch eine hinreichend genügende Mutter nicht gefördert, entwickelt das Kind ein Falsches Selbst, das sich aufgrund von Gefügigkeit entwickelt und schlussendlich glaubt das Kind und der spätere Erwachsene, dass das falsche Selbst sein Wahres Selbst ist.
  • Auch da kann eine Traumatisierung einen normalen Entwicklungsprozess schwer beeinträchtigen und die oben beschriebenen Symptome entwickeln.
  • b.Das Selbst aus neurobiologischer Sicht (Joachim Bauer, Das empathische Gen, 2021) Die Selbstnetzwerke

Erst seit einigen Jahren rückte das Interesse der Neurobiologie in Bezug zum Selbst ins Zentrum der Forschung. Vor allem interessierte die Neurowissenschaft das innere Terrain der Person, denn die Person hat die Fähigkeit, über sich nachzudenken. In der Psychologie prägte der Psychologe Peter Fonagy den Begriff der Mentalisierung. Jede Person hat Meinungen, Glaubenssätze und Überzeugungen, die wir über uns selbst haben. Die Neurowissenschaft nahm an, dass es dafür neuronale Netzwerke haben muss, die das Mentalisieren im Gehirn abspeichern müssten. Es sind «Selbstnetzwerke», die einerseits im Stirnhirn lokalisiert wurden und im hinteren Bereich ein autobiographisches Areal, das mit den Selbstarealen im Stirnhirn vernetzt ist. In diesen neurobiologischen Korrelaten des «Selbst» ist gespeichert, wie wir uns aktuell fühlen, welche Charaktermerkmale wir uns zuschreiben und welche körperlichen Eigenschaften wir unser Eigen nennen. Weiter speichern die Selbstnetzwerke auch unsere Werte, die uns am meisten am Herzen liegen, weiter was uns am bedeutsamsten ist und welche Ziele in unserem Leben für uns Prioritäten haben.

Die Selbstnetzwerke sind nicht nur das neuronale Korrelat der Selbst-Wahrnehmung, sondern sie kodieren auch den Kern einer Person und sind der Ort der Überzeugungen, die den Sinn des Lebens ausmachen.

Ein wichtiger integraler Teil der Person neben dem Selbst ist die Empathie. Denn wir sind von Natur aus nicht nur Egomanen, sondern soziale Wesen. Um sich gegenseitig zu verstehen zu begreifen, warum jemand sich auf eine bestimmte Weise verhält, brauchen wir eine neuronale Einrichtung im Gehirn, die es uns ermöglicht, uns im sozialen Raum zu bewegen. Um uns untereinander verstehen zu können, brauchen wir auch ein neuronales System der Empathie. Empathie hat eine kognitive (gedanklich-intellektuelle), eine fühlende (emotional-intuitive) und eine Handlungsebene.

  • a.Die kognitive Ebene der Empathie betrifft die Fähigkeit, die innere Situation eines anderen Menschen bewusst zu bedenken. Wir können die Beweggründe seiner Gedanken und sogar sein Verhalten erklären.
  • b.Emotional-intuitive Aspekte der Empathie betreffen die Fähigkeit zur Einfühlung. Die Einfühlung findet überwiegend intuitiv statt. Wir können mit anderen Menschen mitfühlen und oft fallen wir der Gefühlsansteckung zum Opfer. Dafür haben wir als Ausgleich die kognitive Komponente der Empathie.
  • c.Auf der Handlungsebene der Empathie simulieren wir dank der Spiegelneuronen die Handlungen unserer Mitmenschen und dieser Vorgang geschieht intuitiv. Wir können somit Handlungsabsichten des anderen antizipieren.

5. Die Entwicklung des Selbst-Die wichtigsten Stationen

  • Bindung und Spiegelung durch Feinfühligkeit: Der Säugling ist auf eine Bindung zur primären Bezugsperson existenziell angewiesen. Die Bezugsperson gibt durch seine Feinfühligkeit dem Säugling Sicherheit und Geborgenheit. Der Säugling zeigt sofort Bindungsverhalten, wenn er spürt, dass die Bindung gefährdet ist. John Bowlby begründete die Bindungstheorie. Seine enge Mitarbeiterin Mary Ainsworth entwickelte den Begriff der Feinfühligkeit. Sie bezeichnet die Qualität der Reaktion einer Bezugsperson eines Säuglings, durch die diese Person die frühkindliche Bindung so beeinflusst, dass sich eine sichere Bindung ergibt. Die sichere Bindung ermöglicht eine gesunde Entwicklung der Empathie.
  • Die Intersubjektive Phase: Sie beginnt mit 9 Monaten und dauert etwa bis zum 24, Monat. Dann beginnt das Kleinkind die Sprache zu erlernen. In der intersubjektiven Phase werden drei wichtige Erfahrungen gemacht, die bereits das Aufkommen der Empathie ermöglichen. Einerseits die geteilte Aufmerksamkeit, das Beobachten des Gesichtes der Mutter, ob etwas Angst macht oder nicht und das gemeinsame Erleben von Gefühlen
  • Theory of Mind: Das Kind erwirbt mit dem Erlernen der Sprache ein eigenes Selbst und erlebt die Beziehung von Selbst und anderen. Die Entwicklung der Theory of Mind ermöglicht den sozialen Austausch und gleichzeitig beginnt das Kind sein Innenleben zu explorieren.

6. Der therapeutische Prozess eines Traumas

Wenn die Zerstörung des Selbst im Mittelpunkt einer traumatischen Erfahrung steht, dann wird das Opfer seiner Erfahrungen während seiner Entwicklung als Kleinkind zu einem eigenen Selbst beraubt. Wir haben in den oben beschriebenen Aspekten gesehen, dass traumatische Erfahrungen und die dazu gehörenden Emotionen bis ins Prozedurale Gedächtnis verdrängt werden, ja geradezu abgespalten werden. Wir haben auch festgestellt, dass es sehr schwer ist, an die prozeduralen, hartnäckigen Emotionen heranzukommen.

Wenn wir diese aber nicht auflösen können, scheitern wir mit einer Therapie. Einige Therapeutinnen und Therapeuten benutzen die Körperarbeit, um diese Gefühle zu erreichen. Ich gehe da einen anderen Weg und habe auch Erfolg. Ich möchte diesen Weg beschreiben.

Statt der Körperarbeit, die sicherlich in verschiedenen Fällen angebracht ist, habe ich in meiner therapeutischen Arbeit die Feststellung gemacht, dass sich die Theorien der frühen kindlichen Entwicklung besser eignen. Wie oben beschrieben, wirft eine traumatische Erfahrung den Menschen in seiner Entwicklung von einem Moment zum anderen in den Zustand der frühen Kindheit zurück. Die Symptome, die schon Janet als Posttraumatische Störungen bezeichnet hatte, gleichen dem hilflosen Zustand eines Säuglings, der vom Schutz seiner primären Bezugsperson abhängig ist. Die gute Bindung entsteht nur, wenn der Säugling durch feinfühliges Verhalten geschützt wird und sich sicher und geborgen fühlt. Winnicott bezeichnet diese feinfühlige Haltung als holding function. Für mich ist der Aufbau einer solchen Beziehung die Grundlage einer erfolgreichen Traumatherapie.

Das Konzept der Feinfühligkeit bietet sich geradezu therapeutisch an: Folgende vier Punkte sind bei der Feinfühligkeit entscheidend: Ich bin aufmerksam und konzentriert. Ich höre gut zu. Weiter bin ich einfühlsam und versetze mich in die Gefühlslage des anderen. Ich fühle, was er/sie fühlt. Dabei muss ich aber die Balance finden zwischen Mitgefühl mit dem Leiden des anderen und meiner Profession als Therapeut. Ich darf den Patient/in nicht überfordern, sonst reagiert er mit Angst und zieht sich zurück oder agiert noch vehementer sein Trauma aus.

Wurde das Trauma nicht verarbeitet, dann stürzt man durch einen simplen Trigger in der Gegenwart brutal in seine prozeduralen Erinnerungen der traumatischen Vergangenheit ab. Das Opfer bleibt in diesen Erinnerungen gefangen und die traumatischen Reaktionsmuster treten in Erscheinung, die ich oben skizziert habe.

In der folgenden Grafik wird aufgezeigt, wie der Übergang von den expliziten Erinnerungen zu einem episodischen Narrativ von statten geht. Der Patient/in ist nur bereit, mit mir als Therapeut diesen Weg zu gehen, wenn die bereits beschriebene Beziehung etabliert ist und die notwendige Vertrauensbasis geschaffen wurde. Bei der Aufarbeitung des Traumas muss sich der Patient/in begleitet fühlen. Durch diesen Prozess von der Verwirrung zur episodischen Geschichte wird ein Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt, der ein lange ersehntes Verständnis des Traumas bewirkt.

Die Arbeit besteht dann immer in mehreren Schritten: Zuerst ist der Patient/in verwirrt und sein verdrängtes Trauma äussert sich völlig unkontrolliert, wie oben beschrieben. Das Opfer ist den emotionalen Gewalten schutzlos ausgeliefert und gerät in einen unkontrollierbaren Erregungszustand. Der Prozess ist ein langsames Auftauchen aus den impliziten Emotionen zu einem episodischen Narrativ. Durch diese Arbeit macht der Patient/in die gute Erfahrung, dass sich schlussendlich durch die Begleitung des Therapeuten das Trauma der Vergangenheit nicht mehr wiederholt und er/sie gewinnt Einfluss auf das Geschehen. Er ist dem erlebten Trauma nicht mehr hilflos ausgeliefert.


7. Ziel der Therapie

Es ist logisch, dass niemand sein erlebtes Trauma vergessen kann. Das schafft die beste Therapie nicht. Erinnert man sich an sein Trauma, setzt eine Erregung ein. Auf der unten stehenden Grafik pendelt am Anfang der Therapie der Patient/in permanent zwischen sich verstärkenden Hypoerregungen hin und her. Die Erinnerung an das Trauma verstärkt sich in der Gegenwart und wiederum verstärkt sich die prozedurale Erinnerung. Dazwischen befindet sich als seelischer Zustand die adaptive Selbstregulierung. Auf diese brutalen emotionalen Ausschläge haben wir keinen Einfluss, wir sind ihnen hilflos ausgeliefert. Ein gesundes emotionales Niveau, eine episodische Geschichte ist ausser Reichweite. In einem zweiten Schritt erreicht der Patient durch die Begleitung und Unterstützung des Therapeuten eine signifikante Minderung der Erregungsausschläge. Das Ziel der Therapie ist es, dass durch diesen Begleitungsprozess und das erweiterte Verständnis der Zusammenhänge in Bezug zu seinem Trauma der Patient/in die adaptive Selbstregulierung eigenständig ausführen kann. Je mehr er/sie die Erfahrung macht, dass der Patient/in zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden kann und seine Zukunft planen kann, desto befreiter ist er/sie und befindet sich nicht mehr heillos verstrickt mit seiner quälenden Vergangenheit.

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Welchen Einfluss hat die Theorie von Alice Miller ...
Traumatic injuries - a major challenge for psychot...
 

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Guest
Thursday, 21 November 2024

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